Der Seewolf
sagte ich.
Er nickte. »Es gibt keine Erklärung. Niemals im Leben war ich krank. Mit meinem Gehirn stimmt etwas nicht. Krebs, ein Tumor, irgendetwas in der Art. Es greift mein Nervenzentrum an und zerstört es langsam, aber sicher. Ich bin blind, wahrscheinlich kann ich bald nichts mehr hören oder fühlen, nicht mehr sprechen. Ich muss hier liegen - bei vollem Bewusstsein, aber völlig hilflos!« Dann drückte er sein linkes Ohr ins Kissen als Zeichen, dass er keine weitere Unterhaltung wünschte.
Maud und ich wendeten uns bedrückt unserer Arbeit zu. Wir sprachen nur wenig und sehr leise.
»Sie können mir getrost die Handschellen abnehmen«, meinte Wolf Larsen am Abend, als wir ziemlich ratlos neben ihm standen. »Ich bin harmloser als ein Säugling. Wahrscheinlich werde ich mich demnächst wund liegen.«
Ein verzerrtes Lächeln entstellte sein Gesicht und Maud wandte entsetzt ihre Augen ab. Doch sein Wesen blieb unverändert. Der alte, herrische und unberechenbare Wolf Larsen steckte in diesem hilflosen Körper, der einst so unbesiegbar und Furcht erregend gewesen war.
Zwar nahmen wir ihm die Handschellen ab, fühlten uns aber äußerst unbehaglich dabei, als könnte uns dieser Mann jederzeit wieder gefährlich werden. Während wir weiter damit beschäftigt waren, die Ghost instand zu setzen, behielten wir ihn ständig im Auge.
Im Laufe der nächsten zwei Tage versagte Wolf Larsens Stimme. Gerade noch rechtzeitig hatten wir uns mit ihm geeinigt, wie wir uns trotzdem verständigen könnten. Antwortete er auf eine Frage mit einem einfachen Händedruck, so bedeutete dies »ja«, während ein doppelter »nein« hieß. Wenn er etwas sagen wollte, kritzelte er es auf ein Stück Papier. Allerdings hatten wir große Mühe, die fast unleserlichen Buchstaben zu entziffern.
Inzwischen war ein strenger Winter über uns hereingebrochen. Ein Sturm jagte den anderen mit Regen-, Schnee- und Graupelschauern. Die Robben hatten sich auf ihre große Wanderung nach Süden begeben, sodass die Insel verlassen wirkte.
Ich arbeitete fieberhaft. Trotz des schlechten Wetters schaffte ich vom frühen Morgen bis zum späten Abend an Deck, sodass ich gut vorankam. Immer wieder gab es Pannen und Misserfolge, viele Verrichtungen dauerten länger als erwartet. Dennoch ähnelte die Ghost immer stärker dem stolzen Schoner, der sie einst gewesen war.
Maud nähte an den Segeln, die umgearbeitet werden mussten. Zwischendurch unterbrach sie oft ihre Arbeit, um mir zur Hand zu gehen. Ihre armen Hände waren rissig und voller Blasen. Trotzdem klagte sie nicht. Obendrein kümmerte sie sich um das Essen und versorgte den Kranken.
»Heute kommt der Großmast an die Reihe«, kündigte ich an einem Freitagmorgen an.
Mit Hilfe der Ankerwinde holte ich den Mast über die Reling. Dann schwang er frei über dem Deck. Maud klatschte, als sie den Törn nicht mehr halten musste. Aber ihre Freude währte nicht lang.
»Er ist nicht über dem Loch«, rief sie. »Müssen Sie jetzt wieder von vorn beginnen?«
Ich lächelte überlegen, ließ eine Talje nach, zog die andere an und brachte so den Mast direkt über das Loch im Deck. Dann dauerte es nicht mehr lang, bis wir ihn eingesetzt hatten. Wir standen nebeneinander und betrachteten unser Werk. In unseren Augen schimmerten Freudentränen und unsere Hände fanden sich wie von selbst.
»Am Ende war es gar nicht so schwierig«, sagte ich. »Die meiste Mühe hatten wir mit den Vorbereitungen und ...«
Ich schnüffelte, sah nach der Laterne. Sie leuchtete nicht. Noch einmal zog ich die Luft ein.
»Es brennt!«, rief Maud.
Wir sprangen beide zur Treppe, erreichten das Deck. Vom Zwischendeck stieg dichter Rauch empor.
»Der Wolf ist immer noch nicht tot«, murmelte ich, während ich durch den Rauch lief.
In dem engen Raum war der Rauch so dicht, dass ich mir den Weg ertasten musste. Dabei rechnete ich jeden Augenblick damit, von Wolf Larsen gepackt und gewürgt zu werden.
Hustend und nach Atem ringend erreichte ich seine Koje. Ich streckte die Hand aus. Er lag bewegungslos, rührte sich aber kaum merklich unter meiner Berührung. Ich suchte auf und unter seiner Decke, entdeckte aber keine Spur von einem Feuer. Dennoch musste der Rauch eine Ursache haben und sie musste sich in unmittelbarer Nähe dieses hilflosen Mannes befinden.
Noch einmal durchsuchte ich hastig seine Koje. Da fiel mir etwas Heißes auf die Hand. Jetzt begriff ich: Durch die Risse im Boden der oberen Koje hatte er deren Matratze
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