Der Seher
Szenen. Melodramatisch, chaotisch, widersprüchlich, bizarr. Ich weiß nicht, was davon Hellsehen und was Schizophrenie ist.«
»Widersprüchlich?« fragte er.
»Manchmal. Ich kann mich nicht auf das verlassen, was ich sehe.«
»Was für Sachen?«
»Quinn, zum einen. Ich sehe ihn fast täglich. Quinn als Tyrann, als Diktator, als eine Art Ungeheuer, der das ganze Land manipuliert, nicht so sehr Präsident als vielmehr Generalissimo. Sein Gesicht liegt über der ganzen Zukunft. Quinn dies, Quinn das, alle reden über ihn, alle fürchten ihn. Das kann nicht die Wirklichkeit sein.«
»Alles, was Sie sehen, ist wirklich.«
»Nein. Das ist nicht der wirkliche Quinn. Das ist eine Wahnvorstellung. Ich kenne Paul Quinn.«
»Kennen Sie ihn wirklich?« fragte Carvajal, seine Stimme kam aus einer Entfernung von fünfzigtausend Lichtjahren.
»Hören Sie, ich habe den Mann verehrt und war zutiefst für ihn engagiert. Im wahren Sinne des Wortes habe ich ihn geliebt, und das, wofür er stand. Warum habe ich diese Visionen von ihm als Diktator? Warum habe ich plötzlich Angst vor ihm? Er ist nicht so. Ich weiß es.«
»Alles, was Sie sehen, ist wirklich«, wiederholte Carvajal.
»Dann steht diesem Land eine Quinn-Diktatur bevor?«
Carvajal zuckte die Achseln. »Vielleicht. Sehr gut möglich. Wie soll ich das wissen?«
»Und ich? Wie kann ich glauben, was ich sehe?«
Carvajal lächelte und streckte eine Hand in die Höhe, die Handfläche mir zugewandt. »Glauben Sie«, drängte er in dem müden, spöttischen Tonfall eines alten mexikanischen Priesters, der einem gepeinigten Jungen rät, Vertrauen in die Güte der Engel und die Liebe der Jungfrau zu haben. »Zweifeln Sie nicht. Glauben Sie.«
»Ich kann nicht. Es gibt zu viele Widersprüche.« Ich schüttelte rabiat den Kopf. »Es geht nicht nur um die Quinn-Versionen. Ich habe auch meinen eigenen Tod gesehen.«
»Ja, das stand zu erwarten.«
»Viele Male. In vielen verschiedenen Formen. Ein Flugzeugabsturz. Ein Selbstmord. Eine Herzattacke. Tod durch Ertrinken, durch Erschießen. Und noch mehr.«
»Sie finden das sonderbar, eh?«
»Sonderbar? Ich finde es absurd. Welcher ist der wirkliche?«
»Alle sind wirklich.«
»Das ist verrückt!«
»Es gibt viele Ebenen der Wirklichkeit, Lew.«
»Sie können nicht alle wirklich sein. Das verstößt gegen alles, was Sie mir über die eine feste und unabänderliche Zukunft gesagt haben.«
»Es gibt eine Zukunft, die eintreten muß«, sagte Carvajal. »Und viele, die nicht eintreten. In den Anfangsstadien des Sehens ist der Geist noch nicht richtig eingestellt, und die Wirklichkeit wird mit Halluzinationen verunreinigt, der Geist wird mit unwesentlichen Daten bombardiert.«
»Aber…«
»Vielleicht gibt es viele Zeitlinien«, sagte Carvajal. »Eine wahre und viele potentielle, verhinderte Linien, die nur im grauen Grenzland der Wahrscheinlichkeit existieren. Manchmal drängt sich Information aus diesen Zeitlinien in unseren Geist, wenn er offen genug ist, verletzlich genug. Ich habe das erlebt.«
»Davon haben Sie nie ein Wort gesagt.«
»Ich wollte Sie nicht verwirren, Lew.«
»Aber was soll ich machen? Was nützen mir die Informationen, die ich erhalte? Wie unterscheide ich echte Visionen von eingebildeten?«
»Haben Sie Geduld. Die Dinge werden sich klären.«
»Wann?«
»Haben Sie eine Ihrer Todesszenen mehr als einmal gesehen?«
»Ja.«
»Welche?«
»Ich habe jede mindestens zweimal gesehen.«
»Aber eine öfter als alle anderen?«
»Ja«, sagte ich. »Die erste. Ich liege als alter Mann in einem Krankenhaus, allerhand komplizierte medizinische Apparate umgeben mein Bett. Diese Szene kommt häufig.«
»Mit besonderer Intensität?«
Ich nickte.
»Der können Sie trauen«, sagte Carvajal. »Die anderen sind Phantome. Sie werden Sie nicht mehr lange plagen. Die unechten Visionen haben eine fiebrige, wesenlose Qualität. Sie flackern und verschwimmen an den Rändern. Wenn Sie sie genau ansehen, wird Ihr Blick sie durchdringen und die Leere dahinter erkennen. Bald verschwinden sie. Es ist dreißig Jahre her, Lew, daß mich solche Dinge beschäftigt haben.«
»Und die Quinn-Visionen? Sind das auch Phantome aus irgendeiner anderen Zeitlinie? Habe ich mitgeholfen, ein Ungeheuer auf dieses Land loszulassen, oder leide ich nur an schlechten Träumen?«
»Diese Frage kann ich nicht für Sie beantworten. Sie müssen abwarten, Sie müssen lernen, ihre visionäre Sicht zu verfeinern, und dann wieder hinsehen und
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