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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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abwägen.«
    »Sie können mir keine präziseren Ratschläge geben?«
    »Nein«, sagte er. »Es ist nicht möglich, eine…«
    Die Türglocke läutete.
    »Entschuldigen Sie mich«, sagte Carvajal.
    Er verließ das Zimmer. Ich schloß die Augen und ließ die Brandung eines unbekannten tropischen Meeres meinen Geist durchspülen, in ein warmes salziges Bad tauchen, das alle Erinnerung und allen Schmerz auslöschte und die zerkratzten Stellen glättete. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschienen mir nun als gleichermaßen unwirklich: Nebelfetzen, Inseln verschwommenen, zarten Lichts, fernes Lachen, belegte Stimmen, die in fragmentarischen Sätzen reden. Irgendwo wurde ein Stück gespielt, aber ich war nicht mehr auf der Bühne und war nicht im Publikum. Die Zeit war ausgesetzt. Vielleicht begann ich schließlich zu sehen. Ich glaube, Quinns ernste, derbe Züge schwebten vor mir, in schreiend grünes und blaues Scheinwerferlicht getaucht, und vielleicht habe ich den alten Mann im Krankenhaus gesehen und die Soldaten auf der Straße; und ich erspähte Welten hinter Welten, ungeborene Reiche, den Tanz der Kontinente, die trägen Kreaturen, die am Ende aller Tage über den großen Eisschild kriechen, der die Erde gürtet. Dann hörte ich Stimmen vom Gang, ein Mann brüllte, Carvajal erklärte geduldig, verneinte. Etwas mit Drogen, wütende Anklagen, Forderungen. Was? Was? Ich kämpfte mich aus dem Nebel, der mich umfangen hielt. Da war Carvajal, an der Tür, ihm gegenüber ein untersetzter Mann mit Sommersprossen im Gesicht, mit gehetzten blauen Augen und ungekämmtem, flammend rotem Haar. Der Fremde hielt eine Pistole in der Hand, eine altmodisch-plumpe, eine blauschwarze Kanone von einer Pistole, mit der er aufgeregt durch die Luft fuchtelte. Die Lieferung, schrie er immer wieder, wo ist die Lieferung, was geht hier vor? Und Carvajal zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf und sagte sanft, wieder und immer wieder: »Das ist ein Irrtum, das ist einfach eine Verwechslung.« Carvajal leuchtete. Es war, als sei sein ganzes Leben auf diesen einen Augenblick zu gehämmert und geschmiedet worden, auf diesen Augenblick der Gnade, diese Epiphanie, diesen verwirrten und komischen Dialog im Türrahmen.
    Ich trat vor, bereit, meine Rolle zu spielen. Ich entwarf Sätze für mich. Ich würde sagen: Ruhe, Junge, hör auf, mit der Pistole herumzufuchteln. Du hast die falsche Adresse. Wir haben hier keine Drogen. Ich sah mich selbst zuversichtlich auf den Eindringling zugehen, immer noch redend. Beruhige dich, steck das Ding weg, ruf den Boß an und kläre die Angelegenheit. Sonst kommst du in ernste Schwierigkeiten, und-. Weiter reden, ruhig nach seiner Pistole greifen, sie aus seiner Hand winden, ihn an die Wand drücken…
    Das falsche Drehbuch. Das richtige Drehbuch verlangte von mir, nichts zu tun. Das wußte ich. Ich tat nichts.
    Der Mann mit der Pistole blickte zu mir, zu Carvajal, wieder zu mir. Er hatte nicht erwartet, mich aus dem Wohnzimmer kommen zu sehen, und er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Dann klopfte es an der Wohnungstür. Von draußen fragte die Stimme eines Mannes Carvajal, ob hier drinnen alles in Ordnung sei. Die Augen des Gangsters blitzten vor Angst und Verwirrung. Er wich zurück von Carvajal. Ein Schuß fiel – fast noch am Rande, beiläufig. Carvajal schwankte, aber hielt sich noch aufrecht an der Wand. Der Gangster preschte an mir vorüber ins Wohnzimmer. Blieb dort stehen, zitternd, vornübergebeugt. Er feuerte noch einmal. Ein drittes Mal. Sprang dann plötzlich zum Fenster. Das Geräusch zersplitternden Glases. Bis jetzt war ich gelähmt auf dem Fleck gestanden, aber nun endlich rührte ich mich. Zu spät; der Eindringling war schon durch das Fenster, Die Feuerleiter hinunter, in der Straße verschwunden.
    Ich wandte mich nach Carvajal um. Er war zu Boden gefallen und lag nahe dem Eingang zum Wohnzimmer, reglos, schweigend, mit offenen Augen; er atmete noch. Sein Hemd war vorne blutbefleckt; ein zweiter Blutfleck breitete sich auf seinem linken Arm aus; eine dritte Wunde, klein und merkwürdig präzise gezeichnet, war in der Seite seines Kopfes, gerade über dem Backenknochen. Ich rannte zu ihm und hielt ihn und sah, wie seine Augen glasig wurden, und es schien mir, als lachte er am Ende, ein kleines, weiches Glucksen – aber das ist vielleicht meine eigene Drehbucherfindung, eine hübsche kleine Regieanweisung. Also. Also! – Endlich abgetan. Wie ruhig er gewesen war, wie ergeben, wie

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