Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Pakistani, Türken und Armenier werden Geschäftspartner und machen Lokale auf. In dieser Stadt erfinden wir neue ethnische Spannungen. New York ist nichts, wenn es nicht Avantgarde ist. Das würdest du verstehen, wenn du dein ganzes Leben lang hier gelebt hättest, wie ich.«
    »Es kommt mir so vor, als hätte ich das.«
    »Sechs Jahre machen aus dir noch keine Einheimische.«
    »Sechs Jahre inmitten ständigen Guerilla-Kriegs fühlen sich länger an als dreißig Jahre irgendwo anders«, sagte sie.
    Oh-oh. Ihre Stimme klang verspielt, aber in ihren dunklen Augen funkelte es böse. Sie köderte mich, ihr zu parieren, zu widersprechen, sie herauszufordern. Mir kam es vor, als ob die Luft um mich herum fiebrig glühte. Unversehens waren wir in das Ich-hasse-New-York-Gespräch gestolpert, das stets Klüfte zwischen uns aufriß, und bald würden wir allen Ernstes streiten. Wer in New York geboren ist, kann die Stadt in Liebe hassen; eine Außenseiterin wie meine Sundara – und sie würde hier immer Außenseiterin sein – lädt sich mit Spannungen und schwerer Energie auf, indem sie diese wahnsinnige Stadt, in der zu leben sie gewählt hat, verdammt, und schwillt und wird ganz mordgierig vor lauter unverdientem Zorn.
    Um der Entwicklung die Spitze zu nehmen, sagte ich: »Also gut, ziehen wir nach Arizona.«
    »He, das ist mein Satz!«
    »Tut mir leid. Ich muß mein Stichwort verpaßt haben.«
    Die Spannung war gewichen. »Die Stadt ist aber auch schrecklich, Lew.«
    »Dann versuch’s mit Tucson. Die Winter sind dort viel milder. Möchtest du rauchen, Schatz?«
    »Ja, aber nicht wieder das Knochenzeugs.«
    »Schlichtes altes prähistorisches Hasch?«
    »Bitte«, sagte sie. Ich holte das Päckchen. Die Luft zwischen uns war rein und liebevoll. Vier Jahre lang waren wir zusammen gewesen, und trotz einiger unvermeidlicher Dissonanzen in dieser Zeit war jeder doch immer noch des anderen bester Freund. Als ich die Joints drehte, massierte sie sanft meine Halsmuskeln; in weiser Absicht drückte sie auf die Verspannungspunkte und ließ das zwanzigste Jahrhundert aus meinen Wirbeln und Bändern rutschen. Ihre Eltern stammten aus Bombay, sie aber war in Los Angeles zur Welt gekommen; und doch spielten ihre geschmeidigen Finger Radha mit meinem Krishna, als wäre sie eine padmini aus der Morgendämmerung des Hinduismus, eine Lotosfrau, die in den erotischen Shastras und den Sutras des Fleisches meisterhaft bewandert war; und das war sie auch in Wahrheit, wiewohl sie sich selbst unterrichtet hatte und keine Schülerin der Geheimakademie von Benares war.
    Die Schrecken und Alpträume New Yorks schienen fast unanständig fern, als wir vor unserem langen Kristallfenster standen. Dicht beieinander, starrten wir in die mondhelle Winternacht und sahen doch nur unser eigenes Spiegelbild: den großen, blonden Mann und die schlanke, dunkle Frau, Seite an Seite, Seite an Seite, Verbündete gegen die Dunkelheit.
    Tatsächlich hielt keiner von uns beiden das Leben in der City wirklich für eine Plage. Als Mitglieder der wohlhabenden Minderheit waren wir vor einem Großteil des städtischen Irrsinns geschützt: zu Hause wohlgeborgen in unserem Maximal-Schutz-Apartment auf dem Hügel, von Filtern und Schutzwänden umgeben, wenn wir die Pendler-Hubschrauber nach Manhattan nahmen, und in unseren Büros auf gleiche Weise behütet. Wenn wir Sehnsucht nach einer hautnahen Konfrontation mit urbaner Wirklichkeit hatten, einer Konfrontation per Fuß und Auge in Auge, ohne Gefühlsduselei, so konnten wir sie haben, und wenn nicht, so gab es genug wachsame Sicherheitsdienste, uns vor Schaden zu bewahren.
    Der Joint wechselte zwischen unseren Händen hin und her, gemächlich liebkosten sich unsere Finger bei jeder Übergabe.
    Vollkommen erschien sie mir da, meine Frau, meine Geliebte, mein anderes Selbst, geistvoll und graziös, geheimnisvoll und exotisch, mit ihrer hohen Stirn, ihrem blau-schwarzen Haar, ihrem Vollmond-Gesicht – aber es war ein verfinsterter Mond, ein Mond, den Schatten in Purpur tauchten; die vollkommene Lotosfrau der Sutras, zarte, seidige Haut, die Augen so leuchtend und schön wie die eines Rehkalbs, klar gezeichnet und rot in den Winkeln, die Brüste fest und voll und aufgerichtet, der Hals elegant, die Nase gerade und anmutig. Yoni gleich einer offenen Lotosblüte, die Stimme so leise und melodiös wie die des Kokilavogels, mein kostbarer Schatz, meine Liebe, meine Gefährtin, meine Braut aus fremder Welt. Innerhalb von zwölf

Weitere Kostenlose Bücher