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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Stunden würde ich mich auf den Weg begeben, der mich von ihr trennen würde, und das war vielleicht der Grund, warum ich sie an diesem verschneiten Abend so intensiv musterte; und doch wußte ich nichts von den bevorstehenden Ereignissen, nichts, ich wußte nichts.
    Irrwitzig gestoned, breiteten wir uns behaglich auf dem gelb-rosa Sofa vor unserem großen Fenster aus. Der Mond war voll, ein kaltes, weißes Leuchtfeuer, das die Stadt mit eisklarem Licht überschüttete. Wunderbar glitzerten Schneeflocken in aufwärts wirbelnden Luftströmungen. Unsere Aussicht ging auf die funkelnden Türme von Brooklyn auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens. Fernes, exotisches Brooklyn, düsteres Brooklyn, Brooklyn rot in Reißzähnen und Krallen. Was passierte da heute nacht in dem Dschungel verwahrloster Straßen hinter der gleißenden Uferfassade der Hochhäuser? Was für Überfälle und Morde, Verstümmelungen, Erdrosselungen, was für Schießereien, was für Gewinne und was für Verluste? Während wir in warmer, glücklicher Geborgenheit unsere Köpfe aneinander schmiegten, erlebten die weniger Privilegierten in jenem melancholischen Stadtteil das wahre New York. Banden plündernder Siebenjähriger trotzten dem grimmigen Schnee, um müde nach Hause gehende Witwen auf der Flatbush-Avenue zu belästigen; und Jungen, mit Nadelschweißbrennern ausgerüstet, durchschnitten fröhlich die Gitterstäbe der Löwenkäfige im Prospect Park Zoo; und rivalisierende Gangs von halbwüchsigen Prostituierten mit bloßen Schenkeln, grellfarbigen Thermalhöschen und Aluminium-Diademen lieferten sich auf der Grand Army Plaza ihre erbitterten, allnächtlichen Revierkämpfe. Auf dein Wohl, gutes altes New York. Auf dein Wohl, Bürgermeister DiLaurenzio, wohlmeinender und pausbäckiger, unerwarteter Führer. Und auf dein Wohl, Sundara, meine Geliebte. Auch dies ist das wahre New York, die schönen jungen Reichen in der Sicherheit ihrer warmen Wohntürme, die Schöpfer und Planer und Lenker, die Lieblinge der Götter. Wären wir nicht hier, so wäre dies auch nicht New York, sondern nur ein riesiges, Unheil brütendes Lager leidender, verbitterter Armer, Opfer der städtischen Katastrophe; Zank und Gestank allein machen ein New York noch nicht. Auch der Glanz gehörte dazu, und Sundara und ich waren, zum Guten oder zum Schlechten, ein Teil der glanzvollen Welt.
    Zeus schleuderte prasselnden Hagel gegen unser unnachgiebiges Fenster. Wir lachten. Meine Hände glitten über Sundaras glatte, kleine, makellose Brüste mit den harten Brustwarzen, und mit meinen Zehen drückte ich auf die Taste unseres Tonbandgeräts; aus den Lautsprechern kam ihre tiefe, musikalische Stimme. Eine Lesung aus dem Kama Sutra. »Siebtes Kapitel. Die verschiedenen Arten, eine Frau zu schlagen, und die begleitenden Laute. Der Geschlechtsakt kann einem Streit zwischen Liebenden verglichen werden; das beruht auf den kleinen Verstimmtheiten, die so leicht in der Liebe entstehen, und der Neigung zweier leidenschaftlicher Individuen, rasch von Liebe zu Zorn hinüberzuspringen. In der Glut der Leidenschaft schlägt man oft auf den Körper der Geliebtenein, und diese Schläge sollten auf die Schulter gerichtet werden – den Kopf – die Stelle zwischen den Brüsten – den Rücken – die jaghana – die Seiten. Vier Arten gibt es, die Geliebte zu schlagen: mit dem Handrücken – mit leicht gekrümmten Fingern – mit der Faust – mit der Handinnenfläche. Diese Schläge sind schmerzhaft, und die Geschlagene stößt oft einen Schrei aus. Es gibt acht Laute lustvollen Schmerzes, die den verschiedenen Schlägen entsprechen. Die Laute sind: hinn – phoutt – phatt – soutt – platt…«
    Und während ich ihre Haut berührte, während ihre Haut die meine berührte, lächelte sie und flüsterte in Übereinstimmung mit ihrer Stimme vom Tonband – um eine Spur nur war ihr Tonfall tiefer-: »Hinn… phoutt… soutt… platt…«
     
8
    Um halb neun war ich am nächsten Morgen in meinem Büro, und genau um neun rief mich Haig Mardikian an.
    »Kriegst du wirklich fünfzig pro Stunde?« fragte er.
    »Ich bemüh’ mich drum.«
    »Ich habe einen interessanten Job für dich, aber der Betreffende kann nicht fünfzig zahlen.«
    »Wer ist der Betreffende? Was für ein Job?«
    »Paul Quinn. Er braucht einen Leiter der Daten-Auswertung und Strategen für seinen Wahlkampf.«
    »Quinn will Bürgermeister werden?«
    »Er schätzt, daß es leicht sein wird, DiLaurenzio in den Vorwahlen

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