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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes die Stadt zwischen die Finger nahmen und gnadenlos ausquetschten. Aber der langbeinige Draufgänger Lindsay erweckte sie als Fun City wieder zum Leben; Vergnügen verwandelte sich in Alptraum, als granatenbewaffnete Skelette anfingen, aus allen Schränken zu steigen; und New York fand heraus, was eine sterbende Stadt wirklich war; die vorherige Periode des Niedergangs erschien bald wie ein goldenes Zeitalter. Die weiße Mittelklasse machte sich in einem panischen Exodus auf und davon; Steuern kletterten auf repressive Höhen, um wesentliche Dienstleistungen in einer Stadt in Gang zu halten, in der die Hälfte der Bewohner zu arm war, für ihre Instandhaltung zu zahlen; große Firmen reagierten damit, ihre Hauptquartiere in baumreiche Vororte zu verlegen, was das Steueraufkommen weiter erodierte. Byzantinische Rivalitäten zwischen Volksgruppen explodierten in jeder Wohngegend. Ganoven lauerten hinter jedem Laternenpfahl. Wie konnte eine derartig verseuchte Stadt überleben? Das Klima war haßerfüllt, die Bürgerschaft böswillig, die Luft verpestet, die Architektur eine Schande, und ein Bündel selbstbeschleunigter Prozesse hatte die ökonomische Basis in gefährlicher Weise angefressen.
    Aber die Stadt überlebte doch, sie blühte sogar. Da war der Hafen, da war der Fluß, da war die glückliche geographische Lage, die aus New York einen unverzichtbaren Knotenpunkt für die ganze Ostküste machte, eine ganglionische Schaltzentrale, die man nicht umgehen konnte. Und mehr: Die Stadt hatte in ihrer bizarren, schwitzigen Dichtheit eine Art kritische Masse, ein Niveau kultureller Aktivität erreicht, das sie zu einer Art schnellem Brüter für die Seele machte, sich aus sich selbst bereichernd und Energie zuführend; denn selbst in einem todgeweihten New York passierte so vieles, daß die Stadt einfach nicht sterben konnte, daß sie schlechterdings immer weiterpulsieren und die Fieber des Lebens hervorspeien mußte, endlos sich erneuernd und wieder auflebend. Eine ununterdrückbare, irrsinnige Energie tickte und tickte und tickte im Herzen der Stadt, würde dort immer ticken.
    Nicht im Sterben also. Aber Probleme gab es.
    Der vergifteten Luft konnte man sich mit Masken und Filtern erwehren. Mit der Kriminalität konnte man sich arrangieren, so wie man sich mit Schneestürmen und Sommerhitze arrangierte; negativ: durch Vermeiden; positiv: durch technologischen Gegenangriff. Entweder trug man keine Wertsachen am Leibe, bewegte sich rasch und wendig durch die Straßen und blieb so viel wie möglich zu Hause hinter vielen Schlössern, oder man wappnete sich mit Raum-Positiv-Warnsystemen, Anti-Überfall-Knüppeln, mit Sicherheitsstrahlungskegeln, die aus einem Stromkreis in den Nähten Ihres Anzugs gespeist wurden, und ging hinaus, den Gangstern zu trotzen. Arrangements. Aber die weiße Mittelklasse war verschwunden, wahrscheinlich für immer, und das verursachte Schwierigkeiten, die die Elektroniker nicht beheben konnten. Die Bevölkerung der Stadt bestand im Jahre 1990 hauptsächlich aus Schwarzen und Puertorikanern; darunter verstreut waren zweierlei Enklaven: eine, die zusehends schrumpfte (aus alternden Juden, Italienern und Iren), und eine, die an Größe und Macht beständig zunahm (die blendenden Inseln der Wohlhabenden, der Manager und Kreativen). Eine Stadt, die nur von Reichen und von Armen bevölkert ist, ist gewissen garstigen spirituellen Erschütterungen ausgesetzt, und es wird noch eine geraume Weile dauern, bis die entstehende nichtweiße Bourgeoisie ein wirklicher Garant sozialer Stabilität ist. Manche Teile New Yorks strahlen, wie nur Athen, Konstantinopel, Rom, Babylon und Persepolis in der Vergangenheit gestrahlt haben; der Rest ist Dschungel, Dschungel im wörtlichen Sinne, stinkend und verrottend, wo Gewalt das einzige Gesetz ist. New York ist weniger eine sterbende Stadt als eine unregierbare, sieben Millionen Seelen bewegen sich auf sieben Millionen Kreisbahnen unter einem ungeheuren zentrifugalen Druck, der jeden Moment aus allen diesen Bahnen Hyperbeln zu machen droht.
    Willkommen im Rathaus, Bürgermeister Quinn.
    Wer kann die Unregierbare regieren? Irgend jemand ist immer bereit, es zu versuchen, Gott steh ihm bei. Von unseren ungefähr hundert Bürgermeistern sind manche ehrlich gewesen, viele waren Betrüger, und so ungefähr sieben kann man aufzählen, die kompetente und wirksame Administratoren waren. Zwei davon waren Gauner, aber ihre Moral sei uns

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