Der Seher
bewußt entworfen wurde, daß es einen Autor des großen Drehbuchs gibt. Das glaube ich nicht. Es ist nicht nötig, eine solche Komplikation einzuführen. Das Drehbuch schreibt sich von Moment zu Moment selbst, und es beinhaltete für mich, daß ich allein lebe. Es ist nicht notwendig zu sagen, daß ich allein leben sollte. Es reicht zu sagen, daß ich mich allein leben sah, und daher würde ich allein sein, und daher war ich allein, und daher bin ich allein.«
»Für einen Fall wie Ihren hat die Sprache nicht die richtige Grammatik«, sagte ich.
»Aber Sie können mir folgen?«
»Ich glaube. Könnte man sagen, >Zukunft< und >Gegenwart< sind bloß verschiedene Namen für dieselben Ereignisse, sofern sie von verschiedenen Blickpunkten aus gesehen werden?«
»Keine schlechte Annäherung«, sagte Carvajal. »Ich neige eher zu der Formulierung, daß alle Ereignisse gleichzeitig sind, und was sich bewegt, ist unsere Wahrnehmung der Ereignisse, der bewegliche Punkt des Bewußtseins, nicht die Ereignisse selber.«
»Und manchmal ist es jemandem gegeben, Ereignisse zur gleichen Zeit von verschiedenen Blickpunkten aus zu sehen, ja?«
»Ich habe viele Theorien«, sagte er vage. »Irgendeine davon trifft vielleicht zu. Entscheidend ist die Vision selbst, nicht die Erklärung. Und die Vision habe ich.«
»Sie hätten damit Millionen machen können«, sagte ich und machte eine Geste, die das schäbige Apartment meinte.
»Habe ich.«
»Nein, ich meine ein wirklich gigantisches Vermögen, Rockefeller plus Getty plus Croesus, ein Geldreich von einem Ausmaß, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Macht. Gipfel des Luxus. Vergnügungen. Frauen, Kontrolle über ganze Kontinente.«
»Das stand nicht im Drehbuch«, sagte Carvajal.
»Und Sie akzeptierten das Drehbuch.«
»Das Drehbuch läßt nichts anderes zu, als daß man es akzeptiert. Ich dachte, den Punkt hätten Sie verstanden.«
»Sie haben also Geld gemacht, viel Geld, aber nichts im Vergleich mit dem, das sie hätten machen können, und es hat Ihnen nichts bedeutet? Sie haben es sich einfach aufhäufen lassen wie fallende Herbstblätter?«
»Ich brauchte es nicht. Meine Bedürfnisse sind gering, und mein Geschmack ist schlicht. Ich habe es aufgehäuft, weil ich gesehen habe, daß ich an der Börse spekulierte und reich wurde. Wenn ich sehe, daß ich etwas tue, dann tue ich es.«
»Immer laut Drehbuch. Keine Fragen nach dem Warum.«
»Keine Fragen.«
»Millionen Dollar. Was haben Sie damit gemacht?«
»Ich habe es so benützt, wie ich es gesehen habe. Einen Teil habe ich weggegeben, an die Wohlfahrt, an Universitäten, an Politiker.«
»Nach Ihren eigenen Neigungen oder nach dem Muster, dessen Entfaltung Sie gesehen haben?«
»Ich habe keine Neigungen«, sagte er ruhig.
»Und den Rest des Geldes?«
»Habe ich behalten. Auf Bankkonten. Was hätte ich damit tun sollen? Es war mir nie wichtig. Wie Sie sagen, bedeutungslos. Eine Million, fünf Millionen, zehn Millionen – nur Worte.« Ein merkwürdiger Ton von Nachdenklichkeit schlich sich in seine Stimme. »Was hat schon Bedeutung? Was bedeutet Bedeutung? Wir folgen nur dem Drehbuch, Mr. Nichols. Hätten Sie gern noch ein Glas Wasser?«
»Bitte«, sagte ich, und der Millionär füllte mein Glas.
In meinem Geist tobte es. Ich hatte Antworten haben wollen und hatte sie bekommen, aber jede hatte einen Schwarm neuer Fragen aufgeworfen. Offensichtlich war er bereit, sie zu beantworten, aber einzig aus dem Grund, daß er sie in seiner Vision von diesem Tag schon beantwortet hatte. Während ich mit Carvajal redete, rutschte ich zwischen die grammatischen Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, verirrt in einem grammatischen Labyrinth durcheinandergeschüttelter Zeiten und Sequenzen. Und er war vollkommen ruhig, saß fast reglos, seine Stimme war dünn, manchmal fast unhörbar, und sein Gesicht war ausdruckslos – nur eigenartig zerstört sah er aus. Zerstört, ja. Er hätte ein Idiot sein können oder vielleicht ein Roboter: der ein starres, vorherbestimmtes, vollprogrammiertes Leben lebte, niemals nach den Gründen für seine Handlungen fragte, einfach nur von Tag zu Tag weitermachte, eine Marionette, die an den Schnüren ihrer eigenen unvermeidbaren Zukunft hing, in einer deterministischen existentiellen Passivität dahintrieb, die ich fremd und bestürzend fand. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn einen Moment lang bemitleidete. Dann fragte ich mich, ob mein Mitgefühl nicht vielleicht fehl am Platz war. Ich
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