Der Seher
waren seine Visionen Prophezeiungen, die sich selbst erfüllten und mit Kausalität, Vernunft oder Logik nichts zu tun hatten? Er sieht, daß er am nächsten 4. Juli auf Stelzen die Brücke überquert; daher tut er es dann, wenn der 4. Juli gekommen ist: aus dem einzigen Grund, weil er es gesehen hat. Welchem Zweck diente sein Gang über die Brücke, wenn nicht dem, den visionären Kreis säuberlich zu schließen? Die Stelzen-Affäre erzeugte sich selber und entbehrte jeder Pointe. Wie konnte man zu solch einem Menschen eine vernünftige Beziehung haben?
Vielleicht war mein Urteil aber ungerecht. Vielleicht gab es Muster, die mir entgingen. Es war ja möglich, daß Carvajal wirklich Interesse an mir, daß er in seinem einsamen Leben eine echte Verwendung für mich hatte. Daß er mein Führer, mein Ersatzvater sein und in der Zeit, die ihm blieb, sein Wissen in mich hineingießen wollte.
Jedenfalls hatte ich Verwendung für ihn. Er sollte mir helfen, Paul Quinn zum Präsidenten zu machen.
Zu wissen, daß Carvajal nicht bis zur Wahl des nächsten Jahres sehen konnte, war ein Rückschlag, aber nicht unbedingt ein vernichtender. Dinge wie die Aufeinanderfolge von Präsidenten haben tiefliegende Wurzeln; Entscheidungen, die jetzt gefällt wurden, würden die politischen Drehungen und Wendungen der nächsten Jahre beeinflussen. Carvajal konnte durchaus schon im Besitz von genügend Daten bezüglich des nächsten Jahres sein, mit deren Hilfe Quinn Bündnisse aufbauen konnte, die ihn zur Nominierung des Jahres 2004 tragen würden. Solcherart war meine Besessenheit, daß ich vorhatte, Carvajal zu Quinns Nutzen zu manipulieren. Durch listige Fragen und Antworten sollte es mir wohl gelingen, entscheidende Informationen aus dem kleinen Mann herauszuholen.
18
Es war eine unangenehme Woche. Die Nachrichten von der politischen Front waren alle schlecht. Überall überstürzten sich Neue Demokraten, Senator Kane ihre Unterstützung zuzusichern, und Kane fühlte sich so sicher, daß er, anstatt sich in der traditionellen Manier von Spitzenanwärtern die Auswahl des Vizepräsidentschaftskandidaten offenzuhalten, auf einer Pressekonferenz fröhlich erklärte, er sähe Socorro gerne als seinen Mitstreiter.
Um Quinn, der nach der Sache mit der Ölgelierung allmählich eine nationale Gefolgschaft gefunden hatte, scherte sich plötzlich kein Parteiführer westlich des Hudsons mehr: Einladungen zu Reden wurden nicht mehr an ihn gerichtet, die Bitten um Fotoautogramme trockneten zu einem Rinnsal aus – geringfügige Zeichen, aber bedeutsame. Quinn wußte, was im Gange war, und er war darüber nicht glücklich.
»Wie konnte das nur so schnell passieren, dieses Kane-Socorro-Bündnis?« wollte er wissen. »Eben war ich noch die große Hoffnung der Partei, und jetzt schlägt man mir alle Türen ins Gesicht.« Er starrte uns mit dem berühmten intensiven Quinn-Blick an, die Augen klickten von einem Mann zum anderen und suchten den, der ihn irgendwie im Stich gelassen hatte. Seine Gegenwart war so überwältigend wie immer; die Gegenwart seiner Enttäuschung war fast unerträglich schmerzhaft.
Mardikian konnte ihm nichts antworten. Lombroso ebenso wenig. Was konnte ich sagen? Daß ich die Tipps gehabt und damit gepfuscht hatte? Ich zog mich hinter ein Achselzucken und ein »So ist nun mal die Politik«-Alibi zurück. Ich war angestellt, vernünftige Prognosen zu machen, nicht als Medium. »Gedulde dich«, versprach ich ihm. »Neue Muster entwickeln sich. Gib mir einen Monat, und ich werde dir einen Marschplan für das ganze nächste Jahr vorlegen.«
»Ich war mit den nächsten sechs Wochen zufrieden«, sagte Quinn bärbeißig.
Sein Ärger wich nach einigen angespannten Tagen. Er hatte zuviel mit örtlichen Problemen zu tun, die es plötzlich haufenweise gab – die traditionellen Hitze-Periode-Unruhen, die in jedem Sommer wie eine Wolke von Moskitos über New York hereinbrechen –, als sich lange über eine entgangene Nominierung zu grämen, die er gar nicht wirklich hatte gewinnen wollen.
Es war auch eine Woche häuslicher Schwierigkeiten. Sundaras ständig sich vertiefendes Engagement für Transit ging mir allmählich an die Nieren. Ihr Verhalten war jetzt so bizarr, unvorhersagbar und unmotiviert wie Carvajals; aber sie gelangten zu ihrer verrückten Willkür aus entgegengesetzten Richtungen: Carvajals Verhalten war von blindem Gehorsam für eine unerklärliche Offenbarung beherrscht, Sundaras von dem Wunsch, von aller
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