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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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auseinander, und ich war nicht einmal fähig, über die sich weitende Meeresstraße hinüberzurufen, nicht einmal fähig, mit schwachen Händen nach ihr zu greifen. Wo war es hin, das Einssein, das wir einige Jahre lang geteilt hatten? Warum wurde der Abstand größer?
    »Dann geh doch in deinen Puff«, sagte ich mürrisch und ging in blinder, wilder, unstochastischer Raserei von Wut und Angst aus der Wohnung.
    Statt sich jedoch in einem Bordell einzumieten, nahm Sundara den Hubschrauber zum JFK-Flughafen und bestieg eine Rakete nach Indien. In Benares badete sie in der trüben Brühe des Ganges, verbrachte eine Stunde mit der erfolglosen Suche nach dem alten Wohnviertel ihrer Familie in Bombay, nahm in Green’s Hotel ein Curry-Dinner zu sich und setzte sich in die nächste Rakete nach Hause. Ihre Pilgerfahrt dauerte insgesamt vierzig Stunden und kostete sie genau vierzig Dollar pro Stunde; diese Symmetrie hob auch nicht gerade meine Stimmung. Ich war so klug, darüber keine Auseinandersetzung zu beginnen. Machen konnte ich sowieso nichts; Sundara war ein freier Mensch und wurde jeden Tag freier, und es war ihr Privileg, ihr eigenes Geld nach ihrem Gutdünken auszugeben, selbst für verrückte Blitzausflüge nach Indien. In den Tagen nach ihrer Rückkehr hütete ich mich, sie zu fragen, ob sie ihre neue Prostituiertenlizenz tatsächlich benützen wolle. Vielleicht hatte sie es schon getan. Ich wollte es lieber nicht wissen.
     
19
    Eine Woche nach meinem Besuch bei Carvajal rief er an und fragte mich, ob ich mich am nächsten Tag zum Mittagessen mit ihm treffen wolle. So traf ich ihn denn, auf seinen Vorschlag, im Club der Handelsherren und Reeder im Finanzdistrikt.
    Der Vorschlag überraschte mich. Der Club der Handelsherren und Reeder ist eine jener ehrwürdigen Wasserstellen der Wall Street, die exklusiv von Spitzenmaklern und Bankiers bevölkert werden und zu denen nur Mitglieder Zutritt haben. Und wenn ich sage, exklusiv, dann meine ich damit, daß selbst Bob Lombroso, ein Amerikaner der zehnten Generation und einer der Mächtigen der Street, stillschweigend wegen seines Judentums von der Mitgliedschaft ausgeschlossen ist und es vorzieht, deswegen keinen Aufstand zu machen. Wie bei allen derartigen Institutionen genügt Reichtum allein als Eintrittskarte nicht; man muß clubfähig sein, ein angenehmer und wohlanständiger Mann aus der richtigen Familie, der auf die richtige Universität gegangen und in der richtigen Firma arbeitet. Soweit ich sehen konnte, sprach in dieser Richtung nichts für Carvajal. Seine richesse war nouveau, und er war von Natur aus ein Außenseiter, dem der erforderliche Privatschulen-Hintergrund und Geschäftsbeziehungen auf höchster Ebene fehlten. Wie hatte er sich eine Mitgliedschaft organisiert?
    »Ich habe sie geerbt«, sagte er lässig, als wir uns sechzig Stockwerke über dem Straßenlärm in gemütlichen, elastischen, gutgepolsterten Sesseln neben einem Fenster niederließen. »Einer meiner Vorväter war Gründungsmitglied, im Jahre 1823. Die Charta bestimmt, daß die Mitgliedschaften der elf Gründer automatisch jeweils auf den ältesten Sohn des ältesten Sohns übergehen: Welt ohne Ende. Wegen dieser Klausel konnten einige sehr zweifelhafte Typen die Heiligkeit der Organisation beflecken.« Ein plötzliches und überraschend boshaftes Grinsen blitzte in seinem Gesicht auf. »Ich komme ungefähr alle fünf Jahre einmal her. Wie Sie sehen, trage ich meinen besten Anzug.«
    So war es – ein plissierter gold- und grünfarbener Fischgrat-Anzug, der seine beste Zeit vielleicht vor zehn Jahren gesehen hatte, der aber immer noch weit mehr Schmiß und Glanz hatte als der Rest seiner trüben und muffigen Garderobe. In der Tat schien mit Carvajal eine beträchtliche Verwandlung vorgegangen zu sein: Er wirkte munterer, lebhafter, fast verspielt, deutlich jünger als der aschgraue Mann, den ich kannte. Ich sagte: »Ich wußte nichts von Ihren Vorfahren.«
    »Es gab in der Neuen Welt schon Carvajals, lange bevor die Mayflower in die Neue Welt aufbrach. Wir waren eine prominente Familie im Florida des frühen achtzehnten Jahrhunderts. Als die Engländer 1763 Florida annektierten, zog ein Zweig der Familie nach New York, und ich glaube, es gab eine Zeit, wo uns der halbe Hafen und der größte Teil der Upper West Side gehörte. Aber unser Vermögen ging in der Panik des Jahres 1837 unter, und ich bin seit hundertfünfzig Jahren der erste in der Familie, der sich über vornehmtuende Armut

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