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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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erhoben hat. Aber selbst in schlimmsten Zeiten haben wir unsere Clubmitgliedschaft behalten.« Er wies auf die herrlichen holzgetäfelten Wände, die glitzernden chromgefaßten Fenster, das unaufdringliche versenkte Licht. Um uns herum saßen Titanen aus Industrie und Finanz, Männer, die zwischen zwei Drinks Reiche aufbauten und abstießen. Carvajal sagte: »Ich werde nie vergessen, wie mein Vater mich zum ersten Mal hierher auf einen Cocktail mitnahm. Ich war ungefähr achtzehn, das muß also, sagen wir, 1957 gewesen sein. Der Club war noch nicht in dieses Gebäude gezogen – er war noch drüben in der Broad Street, in einem spinnwebverhangenen Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert –, und mein Vater und ich, wir kamen in unseren Zwanzig-Dollar-Anzügen und unseren alten Wollkrawatten herein, und jeder sah für mich wie ein Senator aus, selbst die Kellner, aber keiner grinste höhnisch über uns, niemand behandelte uns herablassend. Ich hatte meinen ersten Martini und mein erstes Filet Mignon, und es war wie ein Ausflug nach Walhalla, wissen Sie, oder nach Versailles, nach Xanadu. Ein Besuch in einer fremden, blendenden Welt, in der alle reich, mächtig und erhaben waren. Und während ich meinem Vater gegenüber an dem riesigen alten Eichentisch saß, überkam mich eine Vision, ich fing an zu sehen, ich sah mich selbst als alten Mann, als den Mann, der ich heute bin, ausgetrocknet, mit einer Glatze, von ein paar Büscheln grauen Haars gesäumt, das ältliche Selbst, das ich schon kennen gelernt hatte und leicht wiedererkannte, und dieses ältere Ich saß in einem Raum, der wahrhaft luxuriös war, einem Raum eleganter Formen, mit herrlich fantasievollen Möbeln, in der Tat genau dem Raum, in dem wir jetzt sind, und ich teilte einen Tisch mit einem viel jüngeren Mann, einem großen, kräftigen dunkelhaarigen Mann, der sich nach vorne beugte, mich in angespannter und ratloser Manier anstarrte und jedem einzelnen meiner Worte lauschte, als wolle er sie auswendig lernen. Dann verschwand die Vision, und ich war wieder bei meinem Vater, und er fragte mich, ob mit mir alles in Ordnung sei; ich tat so, als sei es die plötzliche Wirkung des Martini gewesen, die meine Augen glasig und mein Gesicht schlaff gemacht hatten, denn nicht einmal damals war ich ein großer Trinker. Und ich fragte mich, ob das, was ich gesehen hatte, sozusagen ein nachschwingendes Echobild von meinem Vater und mir im Club war, das heißt, ob ich mein älteres Selbst gesehen hatte, das meinen eigenen Sohn in einen Handelsclub der fernen Zukunft mitgenommen hatte. Einige Jahre hindurch rätselte ich, wer meine Frau und wie mein Sohn sein würde, und dann begriff ich, daß es keine Frau und keinen Sohn geben würde. Die Jahre vergingen, und hier sind wir heute, und da sitzen Sie mir gegenüber, beugen sich nach vorne, starren mich in angespannter und ratloser Manier…«
    Ein Schauder überlief meinen Rücken. »Sie haben mich hier bei sich gesehen, vor mehr als vierzig Jahren?«
    Er nickte unbekümmert und fuhr in derselben Bewegung herum, um einen Kellner herbeizuwinken; so gebieterisch bohrte er seinen Zeigefinger in die Luft, als wäre er J. P. Morgan selbst. Der Kellner eilte herbei und grüßte ihn unterwürfig bei seinem Namen. Carvajal bestellte einen Martini für mich – weil er das vor langer Zeit gesehen hatte? – und einen trockenen Sherry für sich selbst.
    »Man behandelt Sie hier sehr höflich«, stellte ich fest.
    »Es ist für sie eine Ehrensache, jedes Mitglied so zu behandeln, als wäre es der Vetter des Zaren«, sagte Carvajal. »Was sie im Hintergrund über mich sagen, ist wahrscheinlich weniger schmeichelhaft. Meine Mitgliedschaft wird mit mir sterben, und der Club wird erleichtert sein, daß keine schäbigen kleinen Carvajals mehr die Räume verunzieren werden.«
    Die Drinks erschienen augenblicklich. In Andeutung eines Toasts stießen wir feierlich mit unseren Gläsern an.
    »Auf die Zukunft«, sagte Carvajal, »die strahlende, lockende Zukunft«, und brach in ein raues Lachen aus.
    »Sie sind heute sehr angeregt.«
    »Ja, ich habe mich schon seit Jahren nicht so schwungvoll gefühlt. Ein zweiter Frühling für den alten Mann – eh? Ober! Ober!«
    Wieder eilte der Kellner herbei: Zu meinem Erstaunen bestellte Carvajal nun Zigarren und wählte von dem Tablett, das das Zigarrenmädchen brachte, zwei der teuersten. Wieder das boshafte Grinsen. Er fragte: »Soll man diese Dinger bis nach dem Essen aufbewahren? Ich glaube, ich

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