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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Regelmäßigkeit und Struktur loszubrechen.
    Launen regierten. An dem Tag, als ich Carvajal besuchte, ging sie in aller Stille zum Gesundheitsamt, um eine Prostituiertenlizenz zu beantragen. Mit allem Drum und Dran – ärztlicher Untersuchung, Interview mit der Gewerkschaft, Fotografie und Fingerabdrücke und dem ganzen Rest bürokratischer Feinheiten – brauchte sie dafür den größten Teil des Nachmittags. Als ich, den Kopf voll von Carvajal, nach Hause kam, schwenkte sie triumphierend die kleine Karte, die ihr das Recht gab, überall in den fünf Bezirken ihren Körper zu verkaufen.
    »Mein Gott«, sagte ich.
    »Stimmt etwas nicht?«
    »Du bist da einfach in der Schlange gestanden wie irgendein Zwanzig-Dollar-Flittchen aus Vegas?«
    »Hätte ich politische Beziehungen ausnutzen sollen, um meine Karte zu kriegen?«
    »Aber wenn dich ein Reporter da gesehen hätte?«
    »Na und?«
    »Die Frau von Lew Nichols, Bürgermeister Quinns Sonderberater, tritt der Hurengewerkschaft bei?«
    »Glaubst du, ich war die einzige verheiratete Frau in der Gewerkschaft?«
    »Das meine ich nicht. Ich denke an einen möglichen Skandal, Sundara.«
    »Prostitution ist legal, und es wird allgemein anerkannt, daß geregelte Prostitution sozial günstige Auswirkungen hat, die…«
    »In New York City ist sie legal«, sagte ich. »Aber nicht in Kankakee. Nicht in Tallahassee. Nicht in Sioux City. Über kurz oder lang wird sich Quinn in solchen und ähnlichen Orten nach Wählern umsehen, und irgendein Schlaukopf wird die Information ausgraben, daß einer von Quinns engsten Mitarbeitern mit einer Frau verheiratet ist, die ihren Körper in einem öffentlichen Bordell verkauft, und…«
    »Soll ich mein Leben davon bestimmen lassen, daß Quinn sich der Spießbürgermoral von Kleinstadtwählern anpassen muß?« fragte sie schrill, ihre dunklen Augen standen in Flammen, und unter der dunklen Tönung ihrer Wangen glühte Farbe.
    »Willst du eine Hure sein, Sundara?«
    »Prostituierte ist die Bezeichnung, die die Gewerkschaft vorzieht.«
    »Prostituierte ist kein bißchen schöner als Hure. Bist du mit den Arrangements, die wir getroffen haben, nicht mehr zufrieden? Warum möchtest du dich verkaufen?«
    »Weil ich ein freier Mensch sein möchte«, sagte sie eisig, »frei von allen begrenzenden Ego-Bindungen.«
    »Und das erreichst du durch Prostitution?«
    »Prostituierte lernen, ihr Ego abzubauen. Sie existieren nur, um den Wünschen anderer zu dienen. Eine oder zwei Wochen in einem städtischen Bordell werden mir beibringen, die Wünsche meines Ego den Bedürfnissen derer unterzuordnen, die zu mir kommen.«
    »Du könntest Krankenschwester werden. Oder Masseuse. Du könntest…«
    »Ich habe gewählt, was ich gewählt habe.«
    »Und das willst du machen? Du willst die nächsten Wochen in einem städtischen Bordell verbringen?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Hat Catalina Yarber das vorgeschlagen?«
    »Das habe ich mir selbst ausgedacht«, sagte Sundara feierlich. Ihre Augen blitzten Feuer. Wir waren am Rande des schlimmsten Streits unseres gemeinsamen Lebens, eines frontalen Ich-verbiete-das/du-hast-mir-nichts-zu-befehlen-Zusammenstoßes. Ich zitterte. Ich sah Sundara, schlank und elegant, Sundara, die alle Männer und viele Frauen begehrten, wie sie in einer jener schauerlichen Zellen auf den Zeitnehmer drückte, Sundara, wie sie ihre Schenkel mit antiseptischen Mitteln spülte, Sundara auf schmaler Pritsche, die Knie zu den Brüsten hochgezogen, wie sich irgendein stoppelbärtiger, nach Schweiß stinkender Kerl grunzend in sie hineinwühlte und sich sabbernd erleichterte, während eine endlose Schlange geiler Kunden mit Eintrittskarten in der Hand und verstohlen ihren Ständer befummelnd vor der Tür wartete. Nein. Ich konnte es nicht schlucken. Vierer-Gruppe, Sechser-Gruppe, Zehner-Gruppe, jede Art von Gruppensex, die sie wollte, in Ordnung, aber nicht n-Gruppe, nicht Unendlich-Gruppe, sie sollte ihren kostbaren, zarten Körper nicht jedem lüsternen Drecksack in New York City anbieten, der gerade einmal das Eintrittsgeld zusammenkratzte, um sich auszuschleimen. Mich beutelte diese Vorstellung. Einen Augenblick lang war ich wirklich versucht, mich in altmodischem Ehemännerzorn zu erheben und ihr zu sagen, sie solle den ganzen Unsinn sein lassen, sonst… Aber das war natürlich unmöglich. So sagte ich nichts, während sich Klüfte zwischen uns öffneten. Wir waren auf getrennten Inseln in einem stürmischen Meer, gewaltige Strömungen trieben uns

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