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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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fertig war, fragte er: »Wie lange arbeitest du schon für mich, Lew?«
    »Seit Anfang ‘96.«
    »Fast vier Jahre. Und seit wann hast du einen direkten Draht zur Zukunft?«
    »Noch nicht lange. Erst seit letztem Frühjahr. Du erinnerst dich, als ich dir riet, das Ölgelierungsgesetz schnell verabschieden zu lassen, kurz bevor die Tanker vor Texas und Kalifornien verunglückten? Ungefähr damals war es. Das war kein Raten. Und dann, die anderen Sachen, die manchmal so seltsam wirkten…«
    »Wie aus der Kristallkugel«, sagte Quinn nachdenklich.
    »Ja. Ja. Weißt du noch, Paul, was du an dem Tag zu mir gesagt hast, als du mir deinen Entschluß mitgeteilt hast, Null-Vier für die Präsidentschaft zu kandidieren? Du sagtest: Du wirst das Auge sein, das für mich in die Zukunft sieht. Du wußtest nicht, wie recht du hattest!«
    Quinn lachte. Es war kein fröhliches Lachen.
    Er sagte: »Ich dachte, wenn du für ein paar Wochen auf Erholung gingest, Lew, würdest du dich schon wieder fassen. Aber jetzt sehe ich, daß das Problem viel tiefer liegt.«
    »Was?«
    »Du warst mir vier Jahre lang ein guter Freund und ein wertvoller Berater. Ich will den Dienst, den du mir erwiesen hast, nicht unterschätzen. Vielleicht hast du deine Ideen aus intuitiver Trendanalyse bezogen oder vielleicht aus Computern, oder vielleicht hat ein Geist dir die Sachen ins Ohr geflüstert – wo immer du ihn hergenommen hast, du hast mir guten Rat gegeben. Aber nach dem, was ich eben gehört habe, kann ich nicht riskieren, dich in meinem Stab zu behalten. Wenn sich herumspricht, daß Paul Quinns wichtigste Entscheidungen von einem Guru, einem Seher, einer Art hellsichtigem Rasputin für ihn gefällt werden, daß ich in Wahrheit nur eine Puppe bin, die im Dunkeln zappelt, bin ich erledigt, tot. Wir beurlauben dich ab sofort, dein Gehalt zahlen wir dir bis zum Ende des Steuerjahres weiter, in Ordnung? Damit hast du mehr als sieben Monate Zeit, deine alte private Beratungsfirma wieder in Gang zu bringen, bevor du von den Gehaltslisten der Stadt gestrichen wirst. Mit deiner Scheidung und allem bist du wahrscheinlich finanziell in einer schwierigen Lage, und ich möchte es nicht schlimmer für dich machen. Und wir wollen noch eine Abmachung treffen, du und ich: Ich werde öffentlich keine Erklärung über die Gründe deines Rücktritts abgeben, und du wirst nicht verkünden, woher du deine Ratschläge für mich bezogen hast. Einverstanden?«
    »Du wirfst mich raus?« murmelte ich.
    »Es tut mir leid, Lew.«
    »Ich kann dich zum Präsidenten machen, Paul!«
    »Das werde ich wohl alleine schaffen müssen.«
    »Du denkst, ich bin verrückt, nicht wahr?« sagte ich.
    »Das ist ein hartes Wort.«
    »Aber das denkst du, stimmt’s? Du denkst, ein gefährlicher Irrer hat dich beraten, und es zählt nicht, daß der Irre immer recht gehabt hat, du mußt ihn rauswerfen, denn es würde schlecht für dich aussehen, ja, sehr schlecht, wenn die Leute dächten, du hättest einen Zauberer in deinem Stab, und deshalb…«
    »Bitte, Lew«, sagte Quinn. »Mach es mir nicht noch schwerer.« Er durchquerte den Raum und nahm meine schlaffe, kalte Hand in seinen festen Griff. Sein Gesicht war meinem nahe. Hier kam sie: die berühmte Quinn-Tour, noch einmal, ein letztes Mal. Beschwörend sagte er: »Glaube mir, du wirst mir fehlen. Als Freund, als Berater. Vielleicht mache ich einen großen Fehler. Und was ich tun muß, ist schmerzlich. Aber du hast recht: Ich kann es nicht riskieren, Lew. Ich kann es nicht riskieren.«
     
35
    Nach dem Mittagessen räumte ich meinen Schreibtisch aus und ging nach Hause, ging in die Wohnung, die jetzt mein Zuhause abgab, wanderte den Rest des Nachmittags in den schäbigen, halbleeren Räumen herum und versuchte zu begreifen, was mir widerfahren war. Entlassen? Ja, entlassen. Ich hatte die Maske fallen lassen, und was darunter war, hatte ihnen nicht zugesagt. Ich hatte aufgehört, den Wissenschaftler zu heucheln, und mich zur Zauberei bekannt, ich hatte Mardikian die wahre Wahrheit eröffnet, und nun würde ich nicht mehr ins Rathaus gehen und im Kreise der Mächtigen sitzen, und nicht mehr würde ich hinfort die Geschichte des charismatischen Paul Quinns formen und lenken, und wenn er im Januar in fünf Jahren den Amtseid in Washington leistete, würde ich die Szene aus weiter Ferne im Fernsehen verfolgen, als der vergessene, der gemiedene Mann, der Aussätzige der Regierung. Ich war zu unglücklich, um auch nur zu weinen. Ohne Frau, ohne

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