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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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dir letztes Mal gesagt, wir glauben hier nicht an Wahrsager. Warum hältst du dich nicht an Projektionen erkennbarer Trends?«
    »Es geht mir nur um Quinns Bestes.«
    »Sicher. Aber mir scheint, du solltest mehr auf dich selbst achten.«
    »Was soll das heißen?« fragte ich.
    »Daß der Bürgermeister deiner Arbeit hier möglicherweise ein Ende setzen muß, wenn sie nicht etwas, nun, etwas konventioneller wird.«
    »Unsinn. Er braucht mich. Haig.«
    »Er fängt an, anders zu denken. Er denkt, du könntest ihm vielleicht sogar eine Belastung sein.«
    »Dann erkennt er nicht, wie viel ich für ihn getan habe. Er ist tausend Kilometer näher am Weißen Haus, als er es ohne mich wäre. Hör zu, Haig; egal, ob du und Quinn mich für verrückt haltet, diese Stadt wird eines schönen Tages im Januar ohne Polizeichef aufwachen, und deshalb sollte der Bürgermeister noch heute Nachmittag mit einer Personalsuche beginnen, und das sollst du ihm sagen.«
    »Das werde ich – verdammt noch mal – nicht tun. Zu deinem eigenen Schutz«, sagte Mardikian.
    »Sei nicht stur.«
    »Stur? Stur? Ich versuche deinen Hals zu retten!«
    »Was kann es schaden, wenn Quinn in aller Ruhe nach einem neuen Polizeichef Ausschau hält? Wenn Sudakis nicht zurücktritt, kann Quinn die ganze Sache fallen lassen, und niemand muß davon erfahren. Darf ich mich nie irren? Zufällig habe ich recht in bezug auf Sudakis, aber selbst, wenn nicht, was macht’s? Ich habe eine möglicherweise nützliche Information anzubieten, die wichtig sein wird, wenn sie zutrifft, und…«
    Mardikian sagte: »Niemand sagt, daß du hundert Prozent Treffer haben mußt, und natürlich kann es nicht viel schaden, für alle Fälle unauffällig nach einem neuen Polizeichef zu suchen. Der Schaden, den ich verhindern will, droht dir. Quinn hat mir so gut wie wörtlich gesagt, wenn du noch einmal mit so einer exzentrischen Prophezeiung ankommst, mit so einem Stückchen Schwarzer Magie, wird er dich dem Gesundheitsamt überweisen, und er meint es ernst, Lew, er meint es verdammt ernst. Vielleicht hast du eine ungeheure Glückssträhne gehabt, derlei Zeug aus der freien Luft zu produzieren, aber…«
    »Es handelt sich nicht um Glück, Haig«, sagte ich ganz ruhig.
    »Was?«
    »Ich benütze überhaupt keine stochastischen Prozesse. Ich rate nicht. Ich will damit sagen, ich sehe. Ich bin in der Lage, in die Zukunft zu blicken und Gespräche zu hören, Schlagzeilen zu lesen, Ereignisse zu beobachten, ich beziehe alle möglichen Daten direkt aus der Zukunft.« Es war nur eine kleine Lüge, Carvajals Fähigkeiten mir selbst zuzuschreiben. Die Ergebnisse waren dieselben, ob nun er oder ich das Sehen besorgte. »Deshalb kann ich meine Memos nicht immer erklären«, sagte ich. »Ich schaue in den Januar, ich sehe, daß Sudakis zurücktritt, und das ist alles, ich weiß nicht warum, ich kann die umgreifende Struktur von Ursache und Wirkung noch nicht erkennen, nur das Ereignis selbst. Das ist etwas anderes als Trendprojektion, etwas völlig anderes, viel unerklärlicher, hundertprozentig verläßlich, hundertprozentig! Weil ich sehe, was passiert.«
    Mardikian schwieg sehr lange.
    Mit heiserer, wattiger Stimme fragte er schließlich: »Lew, meinst du das ernst?«
    »Absolut.«
    »Wenn ich Quinnhole, wirst du ihm genau das sagen, was du mir gerade gesagt hast? Genau dasselbe?«
    »Ja.«
    »Warte hier«, sagte er.
    Ich wartete. Ich versuchte, an nichts zu denken. Den Geist leer halten, die Stochastizität fließen lassen: Hatte ich einen Fehler gemacht, zu hoch gereizt? Ich war nicht der Meinung. Ich hielt die Zeit für gekommen, den Schleier zu lüften. Aus Gründen der Plausibilität hatte ich Carvajals Rolle in dem Prozeß nicht erwähnt, aber ansonsten hatte ich nichts zurückgehalten; ich empfand eine tiefe Entspannung, eine warme Woge der Erleichterung durchzog mich, da ich nun endlich aus meinem Versteck getreten war.
    Nach ungefähr fünfzehn Minuten kehrte Mardikian zurück. Der Bürgermeister war bei ihm. Sie machten ein paar Schritte ins Büro hinein und blieben dann Seite an Seite in Türnähe stehen; ein seltsames Paar: Mardikian dunkel und lächerlich groß, Quinn blond, kurz, korpulent. Sie wirkten entsetzlich ernst.
    Mardikian sagte: »Sag dem Bürgermeister, was du mir gesagt hast, Lew.«
    Munter wiederholte ich mein Eingeständnis des zweiten Gesichts und benützte, soweit wie möglich, die gleichen Redewendungen wie beim ersten Mal. Quinn hörte ausdruckslos zu. Als ich

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