Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
Vom Netzwerk:
zwischen den Bäumen verschwand. Mit den Händen an der rauen Rinde blieb er hinter einem Baumstamm stehen und betrachtete die Rückseite des Hauses. Eine Terrasse, ein Rasen, noch mehr Obstbäume, Rabatten, in der Ecke des Grundstücks ein gelb angestrichener Schuppen. Alles sehr ordentlich, ein gehegtes und gepflegtes Zuhause. Den Blick immer noch aufs Haus gerichtet, legte er die Wange an den Baum und fühlte dessen Rauheit an seiner Haut, ein Schauer durchfuhr ihn. Er überlegte, ob sie sich dort drinnen hinter den Fensterscheiben befand. Und ob er dort war, dieser Henrik, der ihrer würdig war und den sie trotzdem betrogen hatte. Eine Hure, das war sie.
    Vielleicht hatte er eine halbe Stunde hinter dem Baumstamm gestanden, als die Terrassentür geöffnet wurde. Zuerst konnte er nicht sehen, von wem, aber eine Sekunde später stand sie plötzlich wieder vor ihm. Seine Reaktion überrumpelte ihn. Er hasste sie, aber als sie leibhaftig in seiner Nähe war, spürte er ein Verlangen, das er nie zuvor erlebt hatte. Während all dieser Jahre der Sehnsucht, all den Nächten im Krankenhaus mit Annas stummem Körper dicht neben ihm, hatte er niemals etwas so sehr begehrt wie die Frau, die vor ihm stand. Aber er hasste sie, sie hatte ihn hereingelegt, ihn benutzt. Sein Zorn focht einen Kampf in ihm aus, der ihn fast zerriss, und er musste den Baumstamm fester umfassen, um sich überhaupt aufrecht zu halten.
    Auf einmal so nah und doch so fern.
    Dort drüben auf der Terrasse setzte sie sich hin, in der einen Hand hielt sie ein Telefon und in der anderen ein weißes DIN-A4-Papier. Über ihren Schultern hing eine hellblaue Strickjacke.
    Zuerst saß sie ganz still da und schaute über den Rasen. Dann streckte sie sich, betrachtete das Telefon in ihrer Hand und wählte eine Nummer. Er konnte nicht hören, was sie sagte, nur einzelne Wörter drangen bis zu ihm hinter dem Baumstamm.
    Das Gespräch dauerte vielleicht fünf Minuten, und sobald sie aufgelegt hatte, guckte sie auf den Zettel, den sie mitgebracht hatte, und machte einen weiteren Anruf.
    Das Gefühl, sie anschauen zu können, ohne dass sie es wusste, erregte ihn. Sie war seinen Augen ausgeliefert, vollkommen wehrlos, er hatte die Macht über sie. Wieder und wieder wählte sie eine neue Telefonnummer, und er überlegte, wen sie anrief und was sie sagte, er wollte es wissen. Sie sah ernst aus, während sie sprach, lächelte kein einziges Mal, sondern wählte immer neue Nummern, sobald ein Gespräch beendet war. Dann streifte sie die hellblaue Strickjacke ab und legte sie neben sich auf die Bank. Er konnte die Konturen ihrer Brüste unter dem Pulli erkennen, der Brüste, die seine Hände vor wenigen Tagen liebkosen durften. Er wollte diese Jacke haben, die gerade auf ihrem Körper geruht hatte, wollte ihren Duft spüren und sie anziehen.
    Das Telefon in ihrer Hand klingelte. Sie drückte den Knopf und sagte ihren Namen. Den Namen, den sie ihn nicht wissen lassen wollte. Er musste unbedingt hören, was sie sagte. Vorsichtig und unendlich langsam, damit seine Bewegungen nicht ihren Blick auf sich zogen, pirschte er sich zwischen den Bäumen heran. Dann erreichte er den letzten Baumstamm, der an das Grundstück grenzte. Einige Meter vor ihm der gelb angestrichene Schuppen.
    Sie sah hinunter auf den Terrassenboden.
    Er zögerte nicht, sondern ergriff die Gelegenheit beim Schopf und rannte das kurze Stück bis zu der schützenden Wand. Schnell versteckte er sich dahinter. Durch eine Ritze zwischen den Latten und dem Regenrohr konnte er sie mit dem einen Auge sehen, aber ihre Stimme war noch immer nicht zu hören. Er war viel zu weit weg. Sie erledigte noch einige Anrufe und stand dann plötzlich auf und verschwand wieder hinter der Terrassentür. Die hellblaue Strickjacke ließ sie auf der Bank liegen.
    Er blieb noch eine Weile stehen, unsicher, was er tun sollte. Die Sonne war hinter den Baumwipfeln des Gemeindewaides verschwunden, und ihm fiel plötzlich auf, dass er fror. Solange sie in seiner Nähe gewesen war, hatten keine physischen Empfindungen an ihn herankommen können. Er fragte sich, ob es etwas mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte. Was es mit ihrer Gestalt auf sich hatte, dass sie ihn schützen konnte.
    Das kurze Stück zurück zu den Bäumen rannte er, dann ging er, ohne sich zu beeilen, wieder zur Straße an der Vorderseite des Hauses und blieb dort stehen. Nun wollte er einen Blick auf den anderen werfen. Der offensichtlich Henrik hieß, mit »uns« bezeichnet

Weitere Kostenlose Bücher