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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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sorgenvoll ins Flugzeug gestiegen. Es war nach zehn Uhr am Abend, und kurz nach dem Start konnte sie sie in der Ferne erkennen. Sie erinnerte sich an das Gefühl, so weit weg zu sein und trotzdem bis nach Hause sehen zu können, zu Henrik und Axel und allem, was sicher war. Ein Augenblick der Klarheit, der Einsicht, was eigentlich wichtig war im Leben. Aber dann waren die Jahre vergangen.
    Sechzehnmal erklärte sie, dass die Kindergärtnerin Linda unerwünschte Liebesbriefe an einige der Väter aus der Gruppe verschickt hatte und am Sonntagabend ein Treffen veranstaltet werden musste. Nach dem siebenten Gespräch klingelte das Telefon, bevor sie die nächste Nummer wählen konnte.
    »Hallo, Eva. Hier ist Kerstin aus dem Kindergarten.«
    Sie klang bedrückt. Bedrückt und müde.
    »Ich habe gerade mit Annika Ekberg gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass ihr gestern telefoniert habt.«
    »Ja, sie hat spätabends angerufen.«
    Es ergab sich eine kurze Pause, in der nur ein tiefes Seufzen zu hören war.
    »Linda ist ganz verzweifelt. Sie hat diese E-Mails nicht verschickt. Wir wissen nicht, wie es zugegangen ist.«
    »Nein, ich gebe zu, auch ich war sehr verwundert, es fällt mir ebenfalls schwer zu glauben, dass es wahr sein soll. Ich meine, dass sie eine Beziehung mit einem der Väter aus dem Kindergarten eingegangen ist. Das wäre in der Tat ziemlich unverschämt.«
    Sie sah in den Garten und versuchte, Worte zu finden für das, was sie empfand. Die Ruhe, nachdem sie alles wieder unter Kontrolle hatte. Wie eine unsichtbare Spinne in einem Netz, von dem außer ihr niemand wusste. Gleichzeitig die Frage, was sie mit der Kontrolle anfangen, wohin sie ihr Weg führen sollte. Ein totales Gefühl von Gegenwärtigkeit. Das Hier und Jetzt war alles. Der nächste Atemzug, die nächste Minute. Das Danach konnte sie sich unmöglich vorstellen. Ein dicker roter Strich war mit einem dicken Marker in einem imaginären Kalender gezogen worden, und dieser Strich würde nie wieder auszulöschen sein. Niemals. Vergangenheit und Zukunft waren auseinander gerissen worden und würden einander nie wieder begegnen. Und sie selbst befand sich in dem Nichts dazwischen.
    Ein Geräusch ließ sie den Kopf wenden. Im Augenwinkel hatte sie eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfeldes gesehen. Etwas Großes, das schnell hinter dem Schuppen in der Ecke des Gartens verschwand. In ihrem Leben vor dem Strich im Kalender hätte es sie daran gemahnt, an strategischen Stellen Blutmehl zu verstreuen, aber nun konnte sie sich das schenken. Ihretwegen durften die Rehe jegliche Andeutung von Wachstum auffressen, jede sorgsam kultivierte Pflanze. Nichts sollte in diesem Garten jemals wieder blühen dürfen.
    »Ich habe gehört, dass du vorgeschlagen hast, morgen Abend eine Elternversammlung zu veranstalten, und war zunächst skeptisch, aber ... es gibt wohl keine andere Lösung. Ich weiß nur nicht, wie Linda das schaffen soll. Durch diese Geschichte kommen bei ihr viele Dinge wieder hoch, sie hat schon einmal viel zu kämpfen gehabt, deswegen ist sie ja auch nach Stockholm gezogen. In diesem Fall müssen wir nicht daran rühren, ich möchte nur, dass du es weißt.«
    Es kam noch ein tiefes Seufzen.
    »Ich habe eigentlich nur angerufen, um dich zu bitten, dass du wirklich betonst, wie sehr Linda die ganze Sache bedauert und dass sie diese E-Mails nicht verschickt hat.«
    »Natürlich.«
    Linda hat schon einmal viel zu kämpfen gehabt, deswegen ist sie nach Stockholm gezogen. Sehr interessant. Doch womit sie auch zu kämpfen gehabt hatte, es hatte sie offenbar nicht gelehrt, das Leben anderer Menschen zu respektieren. Nein, Zwietracht säen, rein in die Dusche und runter mit den Ohrringen. Sich nehmen, was man haben will. Dass dabei eine Familie draufgeht, darauf kann man keine Rücksicht nehmen.
    Nein, kleine Linda. Du kannst ruhig dort sitzen mit deiner traurigen Geschichte. Dein Kampf hat gerade erst begonnen. Allerdings wäre es vielleicht nützlich zu wissen, wovor du geflohen bist, als du nach Stockholm kamst.
    Henrik ging schon um vier Uhr. Herausgeputzt und glatt rasiert und in einer Wolke von Aftershave zog er los, um mit Micke ein Bier zu trinken. Den Nachmittag hatte er größtenteils im Arbeitszimmer verbracht, war aber in regelmäßigen Abständen herausgekommen und rastlos zwischen den Räumen des Hauses hin und her gewandert. Wie ein Tier in einem Käfig. Und sie selbst war die verhasste Tierpflegerin, von der er zwar abhing, die aber auch dafür

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