Der Semmelkoenig
ignorieren, dass sich die fünfjährige Jennifer tatsächlich in wahrer Bedrängnis befand. Ihre Mutter musste eingreifen.
»Keeeeevi, Jeeeeeenny! Jetzt is aber Schluss!«
Die Augen verdrehend drückte sie Wolfgang die Semmeln in den Arm und sah mit Genugtuung, wie sich seine Muskeln, die dank seines engen T-Shirts gut zur Geltung kamen, anspannten.
»Du warst schon lang nicht mehr bei uns. Andreas ist übrigens übers Wochenende auf der Handwerksmesse und die Kinder sind bei meiner Schwiegermutter«, kokett zwinkerte sie ihm zu. »Wie wär’s? Schau doch mal vorbei!«, sagte sie und ging zu ihren Zwillingen, um diese auseinanderzuzerren.
5
»So Kinder, jetzt macht mal hin. Nach der Brotzeit wollen die Anni und ich mit euch in den Wald gehen, um Zweige zu suchen, aus denen wir dann schöne Vogelnester bauen können. Solche, wie uns der Oberförster gezeigt hat.«
Lächelnd blickte Erika auf die Schar am Baumtisch. Sie liebte ihren Beruf. Alles war ideal. Eine Arbeit in der Natur, diese Ursprünglichkeit, diese Freiheit. Auch die Kinder mochte sie gerne, wenn da nicht einige anstrengende Mütter gewesen wären. Aber das war nur ein kleiner Wermutstropfen, der im Vergleich nicht ins Gewicht fiel und zusätzlich noch durch diesen strahlend schönen Tag um das Hundertfache aufgehoben wurde. Langsam schlenderte sie an den Tisch, bückte sich, hob einen Gummistiefel auf – wahrscheinlich wieder Oskars, da er am liebsten seine Schuhe täglich in den Bach geworfen hätte; auch im Winter –, half der kleinen Hannah, die Jacke zuzumachen, strich Vroni über den blonden Schopf, reichte ein paar Äpfel weiter, lauschte dem Geschlürfe kleiner Münder an den Milchbechern und wäre vermutlich so ein bis zweimal um die Gruppe herumgegangen, wenn sie nicht gerade Franzis Bemerkung gehört hätte.
»Wie bitte? Franzi? Was hast du grad dem Oskar ins Ohr geflüstert?«
Treuherzig sah der Junge zu seiner Erzieherin auf: »Ich will nich in ’n Wald. Da is ’ne Hexe!«
»Ja, wer hat dir denn so einen Schmarrn erzählt?«
»Die Heidi!«, kam es jetzt zu Erikas Erstaunen von allen Seiten. Das war ja wohl die Höhe! Ihr fehlten die Worte. Wie konnte dieses undankbare Ding nur so gegen die Regeln verstoßen? Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass den Kindern keine Angst gemacht werden durfte. Der Wald sollte als Ort der Geborgenheit, als Freund, als gütiger Vater gesehen werden und da hatten böse Märchenfiguren keinen Platz. Die lebten an anderen Orten; im Norden oder Osten, aber nicht hier! Hier gab es nur gute Geister! Und diese dumme Gans … Heidi war eindeutig ein Fehler gewesen. Von Anfang an hatte Erika ein ungutes Gefühl gehabt.
»Bitte Erika, ich weiß nicht, was ich mit dem Mädel noch machen soll!«, hatte im Oktober ihre beste Freundin gefleht. »Sie schwänzt die Schule, ist frech und hat Flausen im Kopf, von wegen Superstar oder Topmodel. Du musst sie bei dir arbeiten lassen. Die Schule verlangt ein Praktikum und das ist ihre letzte Chance, noch die Kurve zu kriegen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!«
»Ach Sandra, du weißt doch, ich würde sie gerne nehmen, aber Heidi …«
»Bitte, bitte, bitte. Du bist meine letzte Hoffnung. Wir haben es überall probiert. Keiner will sie nehmen. Der Schlimmste war der Möller. Jaja, ich weiß, wir waren uns wegen ihm einig und ich hätt ihn gar nicht erst fragen sollen, aber irgendwie schuldet er mir doch was.«
Erika hatte hörbar die Luft eingesogen. Würde Sandra denn nie Vernunft annehmen? Diese hatte währenddessen verlegen die Kuchenkrümel auf dem Tisch in die hohle Hand gewischt und dann mit tränenverschleierten Augen die Freundin angeblickt.
»Weißte, was der Drecksack gesagt hat? ›Des Flietscherl verdirbt mir’s G’schäft‹, hat der doch tatsächlich über mein Mädel gesagt. Wie kann er es wagen, so über sie zu sprechen. Dieser …«
Wütend hatte sie die Krümel wieder auf den Tisch geworfen und dann laut aufgeschnieft.
»Du kennst sie doch auch. Sie ist im Grunde ein gutes Kind, aber sie hatte eben den falschen Umgang. Oh Gott, ich kann nicht mehr …«
Jetzt waren die Tränen geflossen und Erika hatte in der Zwickmühle gesessen. Tröstend hatte sie Sandra in den Arm genommen, ihren Rücken getätschelt und fieberhaft überlegt, wem sie den schwarzen Peter ganz schnell zuspielen konnte.
»Sandra, soweit ich verstanden habe, interessiert sich die Heidi doch eher für den Verkauf, also den Einzelhandel, irgendwas mit Kundenkontakt
Weitere Kostenlose Bücher