Der Serienmörder von Paris (German Edition)
unter der Tür durchgeschoben. Der eine war an ihren Mann David gerichtet, einen jüdischen Schneider, und der andere an den Sohn Fernand. Beide waren angeblich von Madame Khaït verfasst worden. David öffnete den an ihn gerichteten Brief und las voller Überraschung:
Mach dir um mich bitte keine Sorgen. Sag bitte niemandem etwas, und geh auf gar keinen Fall zur Polizei. Ich mache das alles nur im Interesse von Raymonde. Dr. Petiot hatte recht. Es ist besser, wenn die Polizei glaubt, ich sei eine Drogenabhängige. Ich bin nicht in der Lage, eine Vernehmung durchzustehen. Ich werde versuchen, in die unbesetzte Zone zu entkommen. Du kannst auch dieselben Mittel einsetzen, um mir zu folgen. Später wird Raymonde zu uns stoßen.
Dann gestand sie – was ihr Gatte als sonderbar empfand –, schon seit Jahren schmerzlindernde Medikamente wegen eines Herzleidens genommen zu haben. Der an Fernand gerichtete Brief hatte einen ähnlichen Inhalt. Beide Briefe waren mit dem Schreiben im Fall von Van Bever nahezu identisch, denn sie enthielten ein Geständnis und eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden (in beiden Fällen verschwanden die Personen schnell und ohne zu packen). Sogar die Methode und der Zeitpunkt der Zustellung waren nahezu identisch. (Beide Male gab die unterzeichnende Person ihren vollständigen Namen an.) Einige Experten würden später die Meinung vertreten, dass sich auch die Handschriften in graphologischer Hinsicht ähnelten und wahrscheinlich von ein und derselben Person stammten, doch diese Ansicht war anfechtbar.
David Khaïts Auffassung nach schien es die Handschrift seiner Frau zu sein, woraufhin er schlussfolgerte, dass sie die beiden Briefe geschrieben hatte. Der Hund der Familie, der immer anschlug, wenn sich ein Unbekannter der Wohnung näherte, war ruhig geblieben. Sogar der widerspenstige Riegel an der Tür zum Hof hatte offensichtlich keine Probleme bereitet. Folglich musste eine mit dem Gebäude vertraute Person die Briefe gebracht haben. Khaït erinnerte sich zudem an die Verbitterung seiner Frau wegen der Drogenabhängigkeit Raymondes und an einige Gespräche, in denen sie die Überlegung anstellte, für die Zeitdauer des Prozesses in die freie Zone zu fliehen. Doch gleichzeitig wusste er, dass sie niemals Drogen genommen hatte.
Am selben Morgen wurden Raymondes Rechtsanwalt, Maître Pierre Véron, zwei Briefe zugestellt. Beide – einer an ihn gerichtet, der andere an Raymonde – enthielten nahezu identische Informationen, verglichen mit den Schreiben an die Familie. Drei 100-Francs-Scheine lagen als Bezahlung dem Schreiben an den Rechtsanwalt bei.
Das Hausmädchen, das sie entgegennahm, meinte, sie seien von Marthe Khaït abgegeben worden. Sie war sich sicher, da sie die Frau von früheren Besuchen her kannte. Später änderte sie ihre Aussage und behauptete, die Briefe seien von einer Frau gebracht worden, die Madame Khaït zum Täuschen ähnlich gesehen habe. Wie auch bei den zwei anderen Schriftstücken war der Ton eher formal gehalten. Darüber hinaus sprach sie kein Familienmitglied mit dem Kosenamen an. Auch hier konnten die Graphologen kein eindeutiges Ergebnis vorlegen.
Und warum hätte Madame Khaït eigentlich überhaupt Dr. Petiot aufsuchen sollen? Wollte sie ihm erklären, dass sie bei der Täuschung der Behörden nicht mitmachte? Wollte sie bei Petiot das versprochene Geld für den Rechtsanwalt abholen, oder gab es einen anderen, bislang unbekannten Grund?
Madame Khaïts Mann David wusste zuerst nicht, wie er sich verhalten sollte, gab dann aber der im Brief geäußerten Bitte nach und vermied die Polizei. Fernand benachrichtigte die Ordnungshüter erst am 7. Mai 1942. David Khaït hatte als Jude gute Gründe, den Kontakt zu den Behörden zu meiden, und suchte zuerst Petiot auf, der Madame Khaït am Tag der Verschwindens angeblich nicht gesehen hatte. Er beteuerte, er habe sie zuletzt bei dem Besuch im Appartement der Khaïts gesehen. „Ich weiß lediglich“, erzählte ihm Petiot in seiner Praxis, „dass sie sich in die unbesetzte Zone absetzen wollte.“
Petiot meinte, ihr schon früher einen Kontakt vermittelt zu haben, um fliehen zu können. Während David Khaït wartete, nahm Petiot eine Postkarte und adressierte sie an einen gewissen „Monsieur Gaston – Plage, nahe Loupiac, Cantal“ im südwestlichen Frankreich. Dann kritzelte er einen Satz darauf: „Hast du schon die Reisegruppe gesehen, die ich zu dir schickte?“ Der Arzt frankierte die Karte
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