Der Sichelmoerder von Zons
untersuchen. In all der Aufregung der letzten Tage hatte Bastian diesen merkwürdigen Graben ganz aus den Augen verloren. Erst mit Auftauchen der Karte ging ihm ein Licht auf. Der Graben verlief exakt über einem in der Karte eingezeichneten Gang. Dieser Labyrinth-Gang war offensichtlich eingestürzt und hatte so starke Vibrationen ausgelöst, dass der Wehrturm, wie bei einem Erdbeben, einfach in sich zusammengefallen war. Während Bastian jetzt die Ursache für den Einsturz des Wehrturms völlig klar war, rätselten die Bürger von Zons immer noch darüber. Der verantwortliche Baumeister suchte krampfhaft nach dem Fehler, doch Pfarrer Johannes verbot Bastian, auch nur ein Sterbenswörtchen über seine Erkenntnis zu verlieren. Der alte Pfarrer wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Zu groß war die Gefahr, dass jemand mithilfe eines unglücklichen Zufalls auf den Zugang zur „Unterwelt“ von Zons stieß. Es war schließlich ein erhebliches Sicherheitsrisiko, da dass Labyrinth eine Möglichkeit war, die dicken Festungsmauern von Zons zu umgehen. Es war eine günstige Fügung des Schicksals, dass bisher niemand dem neu entstandenen Graben besondere Beachtung geschenkt hatte.
Er nahm ein langes Seil aus seiner Tasche und befestigte es an einem Holzpflock, den er in einen Felsspalt geschlagen hatte. Er musste das Seil nur immer weiter ausrollen, damit er sich nicht in diesen unterirdischen Gängen verirrte und womöglich nie wieder herausfand. Der Gang war eng und sehr niedrig. Bastian duckte sich, um nicht mit seinem Kopf gegen die Felssteine zu stoßen. Sein Herz klopfte laut vor Aufregung und in seinen Ohren rauschte das Blut. Am liebsten hätte er seinen Freund Wernhart mitgenommen, doch Pfarrer Johannes bestand darauf, dass er alleine ging und niemanden von seinem Vorhaben erzählte. Wenn dir hier unten etwas zustößt, wird dich niemand finden! Bei diesem Gedanken wurde Bastian ganz flau im Magen. Schnell zündete er eine kleine Fackel an und vertrieb die düsteren Gedanken mit dem hellen Lichtschimmer, der sich wie ein beruhigender Schutzmantel um ihn herum ausbreitete. Er lief so schnell er konnte ungefähr einhundert Meter den relativ geraden, niedrigen Gang entlang und zählte dabei genau seine Schritte. Bei 150 Schritten blieb er stehen. Wenn er sich bei seinen Probeläufen am Vortag über der Erde nicht verzählt hatte, dann befand er sich jetzt direkt unter der südlichen Stadtmauer von Zons.
Er schlug einen weiteren Pflock in die Felswand und knotete das Seil darum. Bastian beschloss, einem der größeren Gänge zu folgen, der ihn nach seinen Überlegungen nach ungefähr 300 Schritten direkt unter den Marktplatz führen würde. Ein schriller Schrei ließ Bastians Blut in den Adern gefrieren. Oh mein Gott. Er war nicht allein. Wie war das möglich? Sein Herz raste. Er verlangsamte seine Schritte und lauschte angestrengt. Lateinische Worte flossen durch die dunklen Gänge des Labyrinths und hallten tausendfach an den rauen Felswänden wider. Die Worte formten sich zu einer Melodie, die Bastian irgendwo schon einmal gehört hatte. Aber er konnte sich nicht erinnern.
Plötzlich durchzuckte ein Knall die Luft und der Gesang verstummte abrupt. Eine ängstliche Männerstimme ertönte mit unverständlichen dumpfen Lauten, die sich jedoch nicht zu Worten formten. Trotzdem war eines sicher, dieser Mann bettelte um Gnade. Bastian glaubte, den Tonfall diese Stimme zu kennen. Ein erstickendes Husten unterbrach das Flehen und Bastian durchzuckte die Erkenntnis. Das ist Heinrichs Stimme! Sein Blutdruck schoss in die Höhe und mit plötzlich ungeahnter Kraft lief Bastian los. Sein Kopf stieß ein paar Mal heftig gegen die Felswand, doch er ignorierte den stechenden Schmerz und konzentrierte sich auf den Ort, von dem die Stimme seines Bruders kam. Der Gang endete und Bastian prallte im vollen Lauf gegen die Wand. Benommen fiel er zu Boden, rappelte sich jedoch zügig wieder auf und entdeckte einen schmalen Felsspalt zu seiner Rechten. Ein schwaches Licht schimmerte hindurch und Heinrichs Stimme war immer deutlicher zu hören. Bastian schlüpfte lautlos durch den Spalt, blickte vorsichtig um eine Biegung des Ganges und traute seinen Augen nicht.
XIV
Gegenwart
Anna und Emily befanden sich im Labyrinth direkt unter dem Museumsvorplatz. Zunächst hatten sie beschlossen, nach links zu gehen. Emily hatte aus Bastians Notizen entnommen, dass er in ungefähr fünfzig Metern Entfernung ein schreckliches Geheimnis
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