Der siebte Schrein
die Waffe so gut wie weg war.
Er konnte sie riechen - den durchdringenden, fauligen Geruch von verwesendem Fleisch. Oder waren das nur seine Hände, die er im kläglichen und vergeblichen Bemühen hob, seinen Kopf zu schützen? Seine Hände, die er in das verseuchte Wasser getaucht hatte, wo Fetzen und Streifen der Haut des toten Jungen geschwommen waren?
Die Keulen prasselten auf ihn herab, überall, als wollte das grüne Volk ihn nicht nur erschlagen, sondern dabei gleich noch weichklopfen. Und als er in die Dunkelheit sank und überzeugt war, daß er sterben müßte, hörte er die Insekten singen, den Hund bellen, den er verschont hatte, und die Glocken läuten, die über der Kirchentür hingen. Diese Geräusche verschmolzen zu einer seltsam lieblichen Musik. Dann war auch sie verklungen; die Dunkelheit verschlang alles.
II. Aufstieg. In der Schwebe. Weiße Schönheit. Zwei andere. Das Medaillon.
Der Revolvermann kehrte nicht in die Welt zurück wie nach einem Schlag, wenn man das Bewußtsein langsam wiedererlangte (das hatte er schon mehrmals erlebt), und auch nicht wie beim Erwachen aus dem Schlaf. Seine Rückkehr glich einem Aufstieg.
Ich bin tot, dachte er einmal im Verlauf dieses Vorgangs . . . als sein Denkvermögen zumindest teilweise wiederhergestellt worden war. Ich bin tot und steige in das Leben nach dem Tod empor. So muß es sein. Der Gesang, den ich höre, ist der Gesang der toten Seelen.
Völlige Schwärze wich dem dunklen Grau von Regenwolken, dann dem helleren Grau von Nebel. Dieses hellte sich zur einförmigen Klarheit von Morgennebel auf, durch den Augenblicke später die Sonne bricht. Und über allem lag dieses Gefühl des Aufstiegs, als wäre er in einem milden, aber unentrinnbaren Aufwind gefangen.
Als das Gefühl des Aufsteigens nachließ und die Helligkeit vor seinen Augen zunahm, begann Roland schließlich zu glauben, daß er noch lebte. Der Gesang überzeugte ihn. Keine toten Seelen, keine himmlischen Heerscharen der Engel, wie sie manchmal von den Predigern des Jesusmanns beschrieben wurden, sondern nur diese Insekten. Ein bißchen wie Grillen, aber lieblicher. Wie er sie in Eluria gehört hatte.
Mit diesem Gedanken schlug er die Augen auf.
Sein Glaube, daß er noch am Leben war, wurde auf eine harte Probe gestellt, denn Roland hing in der Schwebe in einer Welt weißer Schönheit - sein erster, verwirrter Gedanke war, daß er sich im Himmel befand und in einer Schönwetterwolke schwebte. Ringsum ertönte das zirpende Singen der Insekten. Und nun konnte er auch die Glocken läuten hören.
Er versuchte, den Kopf zu drehen, und schwankte in einer Art Harnisch. Er konnte ihn knirschen hören. Der leise Gesang der Insekten, der sich anhörte wie Grillen im Gras am Ende eines Tages daheim in Gilead, geriet ins Stocken, der Rhythmus wechselte. In diesem Augenblick schienen Schmerzen wie ein Baum in Rolands Rücken zu wachsen. Er hatte keine Ahnung, woraus die brennenden Äste bestehen mochten, aber der Stamm war ganz sicher seine Wirbelsäule. Weitaus schlimmere Schmerzen pochten in einem seiner Beine - in seiner Verwirrung konnte der Revolvermann nicht feststellen, in welchem. Da hat mich die Keule mit den Nägeln getroffen, dachte er. Und weitere Schmerzen in seinem Kopf. Sein Schädel fühlte sich wie eine aufgeschlagene Eierschale an. Er schrie auf und konnte kaum glauben, daß das heisere Krächzen, das er hörte, aus seiner eigenen Kehle kam. Außerdem bildete er sich ein, daß er in weiter Ferne den Kreuzhund bellen hören konnte.
Liege ich im Sterben? Bin ich wieder einmal ganz am Ende aufgewacht?
Eine Hand strich über seine Stirn. Er konnte sie spüren, aber nicht sehen - Finger wanderten über seine Haut und verweilten hier und da, um einen Knoten oder eine Falte zu massieren. Köstlich, wie ein Schluck kühlen Wassers an einem heißen Tag. Er wollte die Augen schließen, doch da kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Angenommen, diese Hand wäre grün, und die Frau, der sie gehörte, trüge eine zerrissene rote Jacke über ihren Hängebrüsten?
Und wenn es so ist? Was könntest du tun?
»Psst, Mann«, sagte die Stimme einer jungen Frau . . . vielleicht war es auch die Stimme eines Mädchens. Mit Sicherheit war die erste Person, an die Roland dachte, Susan, das Mädchen aus Mejis, die ihn mit Ihr angesprochen hatte.
»Wo . . . wo . . .«
»Psst, nicht bewegen! ´s ist viel zu früh.«
Der Schmerz in seinem Rücken klang ab, aber das Bild des Schmerzes in Form eines Baums
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