Der siebte Schrein
Gänsehaut auf den Armen, und ein häßlicher abergläubischer Schrecken durchfuhr ihn. Er betrachtete den schlafenden Jungen genauer.
Kann nicht sein. Du bist nur verwirrt, das ist alles; es kann nicht sein.
Aber auch nach eingehender Betrachtung konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Es sah zumindest so aus, als sei es der Junge aus dem Trog, wahrscheinlich krank (weshalb hätte er sich sonst an diesem Ort befinden sollen?), aber längst nicht tot; Roland konnte sehen, wie sich seine Brust langsam hob und senkte und die Finger, die über die Bettkante hingen, gelegentlich zuckten.
Du hast ihn nicht gut genug sehen können, um wirklich sicher zu sein, und nach ein paar Tagen in diesem Trog hätte ihn seine eigene Mutter nicht mehr mit Sicherheit erkennen können.
Aber Roland, der eine Mutter gehabt hatte, wußte es besser. Und er wußte auch, daß er das goldene Medaillon am Hals des Jungen gesehen hatte. Kurz vor dem Angriff des grünen Volks hatte er es dem Leichnam des Jungen abgenommen und in die Tasche gesteckt. Nun hatte es jemand - wahrscheinlich die Besitzer dieses Ortes, die das unterbrochene Leben des Burschen, der James hieß, auf wundersame Weise wiederhergestellt hatten - Roland abgenommen und dem Jungen wieder um den Hals gelegt.
Hatte das Mädchen mit der wunderbar kühlen Hand es getan? Hielt sie Roland infolgedessen für einen Ghul, der die Toten bestahl? Der Gedanke gefiel ihm nicht. Tatsächlich machte ihn diese Vorstellung nervöser als der Gedanke, daß der aufgeblähte Leichnam des jungen Cowboys irgendwie seine normale Größe wiedererhalten hatte und wiederbelebt worden war.
Weiter unten auf dieser Seite des Mittelgangs, rund ein Dutzend freie Betten von dem Jungen und Roland Deschain entfernt, sah der Revolvermann den dritten Insassen dieses seltsamen Lazaretts. Dieser Bursche sah aus, als wäre er mindestens viermal so alt wie der Junge, doppelt so alt wie der Revolvermann. Er hatte einen langen Bart, mehr grau als schwarz, der ihm in zwei verfilzten Strähnen auf die Brust reichte. Das zugehörige Gesicht war sonnenverbrannt, runzlig und aufgedunsen unter den Augen. Ein dicker, dunkler Wulst, den Roland für eine Narbe hielt, verlief von seiner linken Wange über den Nasenrücken. Der bärtige Mann schlief entweder oder war bewußtlos - Roland konnte ihn schnarchen hören -, und er hing neunzig Zentimeter über seinem Bett, von einer komplexen Anordnung weißer Gurte gehalten, die in der trüben Luft schimmerten. Die Gurte überkreuzten sich und bildeten eine Reihe von Achten um den ganzen Körper des Mannes herum. Er sah aus wie ein Insekt in einem exotischen Spinnennetz. Er trug ein gazeartiges weißes Nachthemd. Einer der Gurte verlief unter seinen Pobacken und hob seinen Schritt in einer Weise an, als würde er die Wölbung seiner Genitalien der grauen und verträumten Luft darbieten. Weiter unten konnte Roland die dunklen Schattenrisse seiner Beine sehen. Sie wirkten verkrümmt wie uralte, abgestorbene Bäume. Roland mochte gar nicht daran denken, an wie vielen Stellen sie gebrochen sein mußten, um so auszusehen. Und doch schienen sie sich zu bewegen. Wie konnte das sein, wenn der bärtige Mann bewußtlos war? Vielleicht eine Täuschung durch das Licht oder die Schatten . . . vielleicht bewegte sich das gazeartige Nachthemd des Mannes in der leichten Brise oder . . .
Roland wandte den Blick ab, sah zu den bauschigen Seidenbahnen hoch über sich empor und versuchte, seinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Was er gesehen hatte, war nicht von Wind oder den Schatten oder sonst etwas verursacht worden. Die Beine des Mannes bewegten sich irgendwie, ohne sich zu bewegen . . . wie sich Rolands Rücken deutlich fühlbar bewegt hatte, ohne sich zu bewegen. Er wußte nicht, was ein derartiges Phänomen verursachen konnte - und wollte es auch nicht wissen, jedenfalls noch nicht.
»Ich bin nicht bereit«, flüsterte er. Seine Lippen fühlten sich sehr trocken an. Er machte die Augen wieder zu, wollte schlafen, wollte nicht darüber nachdenken, was die verkrümmten Beine des Mannes über seinen eigenen Zustand aussagen mochten. Aber-
Aber du solltest dich besser bereit machen.
Das war die Stimme, die sich stets zu melden schien, wenn er versuchte, sich durchzumogeln oder eine Arbeit aufzugeben oder den einfachsten Weg um ein Hindernis herum zu suchen. Es war die Stimme von Gort, seinem alten Lehrmeister. Der Mann, dessen Stock sie als Jungs alle gefürchtet hatten.
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