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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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blieb bestehen, denn seine Haut selbst schien sich zu bewegen wie Laub in einer sanften Brise. Wie konnte das sein?
    Er ließ die Frage auf sich beruhen - ließ alle Fragen auf sich beruhen - und konzentrierte sich auf die kleine, kühle Hand, die seine Stirn streichelte.
    »Psst, hübscher Mann. Gottes Liebe sei mit dir. Aber schwer verwundet bist du. Sei still. Werde gesund.«
    Der Hund hatte aufgehört zu bellen (wenn das nicht sowieso Einbildung gewesen war), und Roland bemerkte wieder dieses leise Knirschen. Es erinnerte ihn an Pferdezaumzeug oder etwas
    (Henkerstrick)
    woran er jetzt nicht denken wollte. Er bildete sich ein, daß er einen Druck unter seinen Oberschenkeln, seinen Pobacken und möglicherweise . . . ja, seinen Schultern spüren konnte.
    Ich bin gar nicht im Bett. Ich glaube, ich bin über einem Bett. Kann das sein?
    Er fragte sich, ob er in einer Schlinge sein konnte. Er glaubte sich zu erinnern, wie einmal ein Bursche, als er selbst noch ein Junge gewesen war, im Zimmer des Pferdedoktors hinter dem Großen Saal ähnlich aufgehängt gewesen war. Ein Stallbursche, der sich so schlimme Petroleumverbrennungen zugezogen hatte, daß man ihn nicht in ein Bett legen konnte. Der Mann war gestorben, aber nicht schnell genug; zwei Nächte waren seine schrillen Schreie durch die duftende sommerliche Luft über dem Versammlungsfeld gehallt.
    Bin ich demnach verbrannt, nichts weiter als ein Stück Schlacke mit Beinen, das in einer Schlinge hängt?
    Die Finger berührten seine Stirn in der Mitte und rieben das Stirnrunzeln weg, das sich dort bildete. Und es war, als hätte die Stimme, die zu der Hand gehörte, seine Gedanken gelesen und mit den Spitzen der empfindsamen, besänftigenden Finger aufgesogen.
    »Du wirst wieder gesund, wenn Gott will, Sai«, sagte die Stimme, die zu der Hand gehörte. »Aber die Zeit gehört Gott, nicht dir.«
    Nein, hätte er gesagt, wenn er dazu imstande gewesen wäre. Die Zeit gehört dem Turm.
    Dann sank er wieder so unbeschwert, wie er aufgestiegen war, nach unten, weg von der Hand und den traumhaften Geräuschen von Insekten und läutenden Glocken. Es folgte ein Intervall, der Schlaf gewesen sein konnte oder vielleicht Bewußtlosigkeit, aber bis ganz nach unten sank er nicht mehr.
    Einmal glaubte er, die Stimme des Mädchens zu hören, aber sicher war er nicht, weil die Stimme diesmal vor Wut oder Angst, oder beidem, verzerrt klang. »Nein!« schrie sie. »Ihr könnt es ihm nicht wegnehmen, und das wißt ihr! Geht eures Weges und redet nicht mehr davon, los!«
    Als er zum zweitenmal das Bewußtsein wiedererlangte, war er körperlich nicht kräftiger, aber geistig ein wenig mehr er selbst. Als er die Augen aufschlug, sah er nicht das Innere einer Wolke, sondern als erstes fiel ihm wieder derselbe Ausdruck ein - weiße Schönheit. In gewisser Weise war es der schönste Ort, den Roland je in seinem Leben besucht hatte . . . was teilweise natürlich daran lag, daß er noch ein Leben hatte, aber überwiegend daran, daß es hier so elfenhaft und friedlich war.
    Es war ein riesiges Zimmer, hoch und lang. Als Roland schließlich den Kopf drehte - vorsichtig, so vorsichtig -, um seine Größe abzuwägen, schätzte er, daß der Raum von einem Ende zum anderen mindestens zweihundert Meter lang sein mußte. Es war schmal, aber seine Höhe vermittelte den Eindruck einer immensen Geräumigkeit.
    Es gab keine Wände oder Decken in dem Sinne, wie er sie kannte, obwohl es ein wenig so war, als befände er sich in einem großen Zelt. Über ihm schien die Sonne auf bauschige Bahnen dünner weißer Seide, die das Licht dämpften und es in die hellen Wölbungen verwandelte, die er zunächst für Wolken gehalten hatte. Unter diesem Seidenbaldachin war der Raum so grau wie die Dämmerung. Die Wände, ebenfalls aus Seide, warfen Falten wie Segel in einer leichten Brise. An jeder Bahn befand sich ein durchhängendes Seil mit kleinen Glöckchen. Diese berührten den Stoff, und wenn sich die Wände bauschten, läuteten sie in einem leisen und bezaubernden Einklang wie ein Glockenspiel.
    Ein Gang verlief in der Mitte des langen Raumes; auf beiden Seiten standen Betten, jedes mit sauberen weißen Laken bezogen und gestärkten weißen Kissen am Kopf. Rund vierzig standen jenseits des Mittelgangs, alle leer, und vierzig auf Rolands Seite. Hier waren zwei weitere Betten belegt, eines rechts von Roland. Dieser Bursche -
    Es ist der Junge. Der in dem Trog gelegen hat.
    Bei dem Gedanken bekam Roland eine

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