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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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hatte, war längst dahin.
    Der Kreis der Jurorinnen löste sich auf; Frau Ohrwurm, deren Lächeln nur an den Mundwinkeln etwas wächsern wirkte, näherte sich der nervösen Menge.
    »Nun, was war das doch für eine schwere Entscheidung«, sagte sie strahlend. »Aber auch was für ein überraschendes Ergebnis! Es war wirklich eine höchst schwierige Entscheidung -«
    Zwischen mir und einem Frosch, der nicht pfeifen konnte und mit dem Fuß in seinem Banjo hängengeblieben ist, dachte Nanny. Sie betrachtete die Gesichter ihrer Hexenschwestern. Manche kannte sie seit sechzig Jahren. Wenn sie je ein Buch gelesen hätte, dann hätte sie jetzt ihre Gesichter wie eines lesen können.
    »Wir wissen alle, wer gewonnen hat, Frau Ohrwurm«, sagte sie und unterbrach den Wortschwall.
    »Was meinen Sie damit, Frau Ogg?«
    »Hier ist keine einzige Hexe, die heute richtig bei Verstand war«, sagte Nanny. »Und die meisten haben sogar Glücksbringer gekauft. Hexen? Die Glücksbringer kaufen?« Mehrere Frauen sahen zu Boden.
    »Ich weiß nicht, warum alle solche Angst vor Fräulein Wetterwachs haben! Ich habe gewiß keine! Glauben Sie, daß sie einen Zauber über Sie gelegt hat?«
    »Und, wie es aussieht, einen ziemlich starken«, sagte Nanny. »Sehen Sie, Frau Ohrwurm, niemand hat gewonnen, nicht mit den Leistungen, die wir heute gezeigt haben. Das wissen wir alle. Also lassen Sie uns einfach nach Hause gehen, ja?«
    »Ganz sicher nicht! Ich habe zehn Dollar für diesen Pokal bezahlt, und ich werde ihn überreichen -«
    Die absterbenden Blätter raschelten an den Bäumen.
    Die Hexen rückten zusammen.
    Zweige schlugen gegeneinander.
    »Es ist der Wind«, sagte Nanny Ogg. »Das ist alles . . .«
    Und dann war Oma einfach da. Es war, als wäre ihnen nur nicht aufgefallen, daß sie schon die ganze Zeit dagewesen war. Sie besaß die Gabe, sich einfach aus dem Vordergrund auszublenden.
    »Ich wollte nur vorbeischauen und sehen, wer gewonnen hat«, sagte sie. »In den Beifall einstimmen, und so . . .«
    Lätizia ging wutschnaubend auf sie zu.
    »Haben Sie in den Köpfen der Leute herumgespukt?« kreischte sie.
    »Und wie sollte ich das machen, Frau Ohrwurm?« fragte Oma unterwürfig. »Bei den vielen Glücksbringern?«
    »Sie lügen!«
    Nanny Ogg hörte, wie alle vernehmlich Luft einsogen, sie selbst am lautesten. Hexen lebten von ihren Worten.
    »Ich lüge nicht, Frau Ohrwurm.«
    »Leugnen Sie, daß Sie mir den Tag absichtlich verdorben haben?«
    Einige Hexen vorne in der Menge wichen zurück.
    »Ich gebe zu, meine Marmelade ist nicht nach jedermanns Geschmack, aber ich habe nie -«, begann Oma mit bescheidener, leiser Stimme.
    »Sie haben alle beeinflußt!«
    »- ich habe Ihnen nur helfen wollen, Sie können jeden fragen -«
    »Sie waren es! Gestehen Sie!« Frau Ohrwurms Stimme klang schrill wie die einer Möwe.
    »- und ich habe ganz gewiß keine -«
    Omas Kopf drehte sich mit der Ohrfeige.
    Einen Augenblick bewegte sich niemand, atmete niemand.
    Sie hob langsam eine Hand und rieb sich die Wange.
    »Sie wissen, Sie hätten es mühelos tun können!«
    Nanny hatte den Eindruck, als würde Lätizias Schrei von den Bergen widerhallen.
    Der Pokal fiel ihr aus den Händen und landete knirschend in den Stoppeln.
    Dann kam Bewegung in die erstarrte Szene. Zwei ihrer Hexenschwestern traten vor und legten Lätizia die Hände auf die Schultern, worauf sie sanft und ohne Einwände weggezogen wurde.
    Alle anderen warteten gespannt, was Oma Wetterwachs tun würde. Sie hob den Kopf.
    »Ich hoffe, Frau Ohrwurm geht es gut«, sagte sie. »Sie schien mir ein bißchen . . . außer sich zu sein.«
    Es folgte Schweigen. Nanny hob den vergessenen Pokal auf und klopfte mit dem Zeigefinger dagegen.
    »Hmm«, sagte sie. »Nur versilbert, glaube ich. Wenn sie zehn Dollar dafür bezahlt hat, wurde die arme Frau praktisch ausgeraubt.« Sie warf ihn Gammer Beavis zu, die ihn aus der Luft fing. »Kannst du ihn ihr morgen zurückgeben, Gammer?«
    Gammer nickte und versuchte, Oma nicht in die Augen zu sehen.
    »Aber davon müssen wir uns nicht alles verderben lassen«, sagte Oma liebenswürdig. »Lassen wir den Tag angemessen zu Ende gehen, ja? Sozusagen traditionell. Röstkartoffeln und Marshmallows und Geschichten am Feuer. Und Vergebung. Und lassen wir Vergangenes vergangen sein.«
    Nanny konnte die plötzliche Erleichterung spüren, die sich wie ein Fächer ausbreitete. Die Hexen schienen zum Leben zu erwachen, als sei ein Zauber von ihnen genommen worden, der

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