Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
sich in ihr zu formen, konnte sie nicht sagen. Sie mochte eine Stunde so gesessen haben, oder zwei, reglos, erstarrt. Unter den Haaren war ihr Rücken schon feucht. Der Regen rann langsam hinten in ihren Ausschnitt, und vielleicht war es da, dass sie sich an die Nixe erinnerte. Wie hatte sie noch gesagt?
Nichts, was ins Wasser fällt, ist jemals wirklich verloren.
Was ins Wasser fällt … Die Worte setzten sich in ihr fest, in der bitteren Leere. Was ins Wasser fällt … Wie ein Schmuckstück; wie ein billiges Kettchen. Oder … Eine andere Erinnerung tauchte langsam auf. Oder wie kleine Schiffchen, von Kindern gebaut. Schiffchen, die schwimmen, frei, sorglos, eine kurze Weile, bis sie untergehen. Schiffchen aus Baumrinde … oder aus gefaltetem Papier. Papier - Papier und Wasser. Lustiges Tanzen auf den Wellen, unter dem freundlichen Wind. Und dann … Zerfließen in dem sanften, unaufhörlichen Wiegen, Auflösen in Kühle, in Stille. Nichts sein, und doch umfangen, umschlossen … geborgen?
Mina wandte den Blick von dem schwindenden Taterkönig ab.
Mit Mühe öffnete sie ihr Bündel; zog die Blätter der Waisenhausakten heraus, zerknickt und eingerissen. Noch immer rührte Karol sich nicht. Wie viel leichter wäre dies mit ihm gemeinsam gewesen … Die Bogen unter Schmerzen falten, einen nach dem anderen, ohne genau zu wissen, wie man es machte, bis etwas herauskam, das wie kleine Schiffchen aussah. Die Weidenzweige zur Seite streichen, die zarten Formen auf das Wasser setzen, eine nach der anderen. Zusehen, wie sie davontrieben, wie die Buchstaben sich in weiche Kringel und Schlieren lösten. Wie der Bach mit ihnen zu spielen begann, sie lustig durcheinander warf, noch ehe sie ganz außer Sicht waren; Papierschiffchen, Kinderspielzeug. Als wären sie gar nichts weiter als das …
Karol hätte ihr helfen können, am Ende, als nur zwei kleine Boote noch auf die Reise warteten. Es wäre sicher leichter gewesen, als selbst mit blutenden Fingerspitzen den
Verschluss öffnen zu müssen und sie vorsichtig aus dem Medaillon zu ziehen, die beiden alten Potographien. Nichts war von den Gesichtern mehr zu erkennen als einige blasse Linien, die je einen dunklen, federförmigen Fleck umrahmten. Einmal auf dieser, einmal auf der anderen Seite. Mina sah sie lange an.
Nichts ist verloren …
Ihre Hand zitterte, als sie die Bilder in den beiden letzten Schiffchen auf das Wasser setzte. Und nichts weiter geschah, als dass der Bach sie mit sich fortzog wie die anderen, unter den Bäumen hindurch; kein Wispern unter dem Regen, kein Lebwohl in dem Plätschern, kein Fühlen in ihr, im steinschweren Herzen. Nur zwei weiße Flecken auf dem Wasser, die immer weiter fortgetragen wurden, bis sie sie nicht mehr sehen konnte.
Keine Schwäne für Mina. Nur der Bach, und der Regen, der ihr über die Wangen lief. Und nichts mehr, was ihr zu tun blieb.
Sie wollte sich abwenden, ohne zu wissen, wohin, aber da war etwas, das ihren Blick einfing. Ein Wellenglitzern vielleicht, ein munteres Wasserblinken? Nein, es schien von tiefer her zu kommen. Vom Bachbett, in dem Kiesel lagen. Sie hielt inne, beugte sich vor, vielleicht nur, um den Augenblick hinauszuzögern, an dem sie sie wieder ansehen musste, die stille Gestalt unter dem Weidenstamm. Ein Funkeln im klaren Wasser, zu hell für einen geschliffenen Stein, zu warm für silbrige Schuppen. Gerade an der Stelle, an der sie die Schiffchen auf ihre Reise geschickt hatte. Sie neigte sich tiefer, spürte den kühlen Atem des Bachs an ihrem Gesicht. Funkeln, Schimmern … goldenes Glänzen. Goldenes,
goldenes Glänzen. Und eine schmale Form, kaum größer als ein Kinderfinger.
Im Bachbett blinkte der Schlüssel. Der goldene Schlüssel, der Schatz des Schlangenkönigs. Der nutzlose Schlüssel, der ihr nicht geholfen hatte, die Brüder zu befreien.
Mit einem Ruck richtete Mina sich auf.
Verloren, dachte sie wild, aber er war doch verloren! Er ist mit der Glastür ins Schwanenhaus gefallen, in den Teich. Den künstlichen Teich!
Verloren … im Wasser … alle Wasser eins … Alle Wasser, alle Bäume …
Eins.
War das immer noch die Stimme der Nixe, die in ihr flüsterte, so seltsam hartnäckig? Verloren, geborgen, ja, aber wie, wie war das möglich? Und was - was hatte sie noch gesagt?
Alle Wasser sind ein Wasser, so wie alle Bäume ein Wald sind. Nichts, was ins Wasser fällt, ist jemals wirklich verloren.
Mina hörte das Lachen der Nixe.
Alle Wasser. Der Bach, die Schlei. Die See,
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