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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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der Regen. Wasser in einem Wasserglas. Wasser in einem künstlichen Teich. Und auch das Wasser in der schwarzen Taterkuhle am Finsteren Stern …
    Als sie endlich verstand, als sie endlich wusste, was sie zu tun hatte, tauchte sie beide Arme tief ins Wasser und griff den goldenen Schlüssel so fest, dass sein Bart ihr in die Finger schnitt.
     
    Wie kühl er war, wie glatt. Wie er leuchtete unter den Regentropfen. Sie ließ ihn nicht los, umklammerte ihn wie eine helfende Hand. Wandte sich halb um, tastete in Laub
und Gras, nach Karol, ohne hinzusehen. Berührte mit der freien Hand seine Arme, seine Brust, die blassen Wangen. Nur so wenig zu spüren durch die nassen Verbände … Aber etwas - etwas war da. Und wenn es nur der zarte Dunst war, der sich um den Stoff schlang. Etwas war noch da.
    Sie atmete aus. Sie atmete ein. Strich den Blätter vorhang mit dem freien Arm ganz beiseite. Ließ den Regen ungehindert in die kleine Höhle hinein, auf ihre Gesichter, ihre Schultern. Streckte die Beine lang aus, bis ihre nackten Füße in den Bach eintauchten und die winzigen Wellen ihre Sohlen kitzelten. Presste den Schlüssel in der Faust. Noch einmal atmen. Und noch einmal.
    Wasser, sagte sie schweigend. Wasser, hör mir zu. Mina ist es, die spricht. Mina, die rückwärts durch die Taterkuhle geschwommen ist. Ich weiß nicht, ob du tun kannst, worum ich dich bitten will. Ich weiß nicht einmal, ob du mir zuhören wirst. Ich habe etwas, das brauche ich nicht; nicht so sehr, wie ich geglaubt habe, als ich es nicht hatte. Aber er, er braucht es, Wasser. Er weiß nicht mehr, wie Worte auf der Zunge schmecken. Sein Lachen ist in den Stürmen zerrissen. Und sein Kummer ist so groß, dass darüber seine Tränen versiegt sind. Er weiß nicht mehr, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, Wasser; aber ich, ich weiß es. Ich weiß es gut. So gut, dass ich nichts brauche, um mich daran zu erinnern. Was du mir genommen und zurückgegeben hast - ich schenk es wieder her. Bitte, Wasser …
     
    Sie atmete ein. Sie atmete aus. Mit dem Atem, der ihre Brust verließ, beugte sie sich vor, immer noch, ohne hinzusehen. Legte blind den Schlüssel auf den schweigenden Mund unter
sich. Beugte sich noch tiefer, schloss die Augen ganz. Berührte mit den Lippen glattes Metall.
    Kühle. Kühle in ihren Haaren, auf ihrer Stirn. Unter ihren Lippen, die zitternd stillhielten. Sanfte Kühle, und dann …
    Ein Geschmack wie vom ersten süßen Flieder im Jahr. Er stieg ihr zu Kopf, machte sie schwindelig. Eine sachte Wärme, wie Frühlingssonne in jungem Gras. Ein Atemzug. Der nicht ihr eigener war. Er wehte über ihren Mund, leichter als Luft.
    Ihre Wimpern öffneten sich von allein. Und vor ihnen, so nah, so nah, schimmerte das klarste, hellste, reinste Blau. Es umfing sie ganz. Und nur aus dem Augenwinkel sah sie noch, dass der goldene Schlüssel heruntergerutscht war …
    Sie spürte den Regen auf ihrem Kopf, das Bachwasser an ihren Füßen. Sie schmeckte den Flieder und fühlte die Wärme der Lippen, die sich ganz schwach unter ihren zu bewegen begannen.
    »Mina«, murmelten sie. »Mina. Schwanenkind. Bleib noch. Geh nicht fort.«
    Sie löste sich langsam, langsam, eine Winzigkeit nur. Sah hinein in das schimmernde Wasserblau; in Karols Augen, verzaubert, verwirrt. Verzaubert, weil seine Stimme klang wie der Fluss, der unter den Brücken murmelt, wie der Wind, der durch die Baumwipfel streicht; wie die Sommernacht, wenn sie ihre Libellenflügel ausbreitet und durch den Abend hereinstreicht.
    Verwirrt, weil ihr Mund ohne ihr Zutun seine Worte mitgesprochen hatte; mitgesprochen, und nicht nur lautlos geformt. Sie hatte ihre Stimme gehört unter seiner, ganz im selben Takt. Ohne auch nur zu ahnen, was er sagen würde.

    Er hatte es auch gehört. Eine schwarze Vogelschwingenbraue bog sich sanft ein Stück weit nach oben.
    »Karol«, sagte Mina.
    »Karol«, sagte Karol zugleich.
    »Das Wasser …«
    »Das Wasser …«
    »Ich weiß nicht …«
    »… weiß nicht.«
    Sie sahen sich an.
    Auch das Lachen, das in beiden Kehlen zugleich aufblühte, teilten sie miteinander. Und das Weinen, das hinterher kam.

Als der Abend dämmerte, wieherte das rote Pferd auf der Lichtung zwischen den Erlenstämmen.
    »Es mahnt uns«, sagte Karol, und es kitzelte auf Minas Lippen, als er sprach; mit Mühe nur hatten sie gelernt, sich abwechselnd zu unterhalten. »Das Pferd mahnt, dass es Zeit ist, Mina.«
    »Aber ich will nicht gehen«, sagte sie ohne Überlegung. »Ich will

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