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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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die rote Blume erschienen war, um sie auf verschlungenen Wirrpfaden zu führen.
    Das Wasser summte vor sich hin, keine grauen Kielkropf-Ellenbogen
verursachten Wellen und Strudel. Sie wandte sich nach links, dorthin, wo die Weidenkrone über den Sträuchern hing. Die Weidenkrone, unter deren langen Zweigen sich ein verstecktes, stilles Lager fand.
    Ihr Mund wurde trocken, während sie sich am Ufer entlangtastete, die Füße vorsichtig in den weichen Boden setzte. Und was war das für ein Flattern in ihrer Kehle? Oder kam es von tiefer her, aus ihrer Brust? Sie wusste es nicht zu sagen. Ihre Gedanken fingen an, sich unsinnige, furchtbare Fragen zu stellen. Was, wenn er nicht dort war? Was, wenn sie nur die Drehorgel fand, an den Baumstamm gelehnt, morsch und halbzerfallen, als habe sie schon viele Jahre niemand mehr gespielt? Was, wenn nicht einmal sie noch da war?
    Aber sie wusste ja, dass er unter der Weide lag. Die vertrocknete Blüte in Liljas Hand hatte es ihr gesagt. Dort lag er und schlief, schlief hinüber nach irgendwohin, wohin sie ihm nicht würde folgen können, während der Feenkreis, der ihn schützte, um ihn welkte und starb. Sie musste sich beeilen.
    Die letzten Schritte lief sie fast, verfing sich in Sträuchern, so ungeschickt wie beim ersten Mal. Der Wind fuhr durch die Weidenzweige, kämmte sie raschelnd mit einem unsichtbaren Kamm. Ja, sie stand noch immer so sehr nach vorn gebeugt, so alt und so schwer von all den Tränen, die in ihrem knorrigen Herzen wohnten. Und noch immer bildete sie dabei unter sich eine Höhle, halb von Blättern verdeckt.
    Karol, sagte Mina stumm. Karol, wach auf. Ich bin es, Mina. Ich bin gekommen, um dich zu wecken. Wach auf, Karol.

    Ihr Arm zitterte, als sie die Zweige beiseiteschob. Und dort, unter dem silbrigen Graugrün der Weidenblätter, unter dem Stamm, der sich über ihn wölbte … Dort lag der Taterkönig auf dem Rücken und schlief.
    Atemlos, sprachlos blickte Mina auf ihn hinunter. Die eine dunkle Strähne lag noch immer so über seine bleiche Stirn geweht, wie sie gelegen hatte, als sie ihn hier zum ersten Mal sah. Seine blassen Hände waren über dem Bauch ineinander verschlungen, und sie war sicher, nicht ein Fingerglied war anders gebogen, als es das damals gewesen war. Damals. Vor ein paar kurzen Tagen.
    Sie ließ sich in die Knie sinken, streifte unbeholfen das Bündel ab.
    Karol. Karol.
    Über ihr zogen Wolken vor die Sonne, und das Licht wurde schwächer. Mit sanften Fingerspitzen begann ein Sommerregen, auf die Blätter zu trommeln.
    Sie konnte die Erde durch seinen Körper sehen. Das zerdrückte Gras, die kleinen morschen Zweige. Was dort lag, in der Weidenhöhle, war beinahe nur noch der Glanz, der zarte milchweiße Dunst, der beim ersten Mal um seine Gestalt gewesen war.
    Seine Augen waren fest geschlossen. Vom blauen Feenkreis um ihn her war nichts mehr übrig geblieben.
    Geh nicht fort, bat es hilflos in ihr. Geh doch nicht fort. Deine Brauen sind geschwungen wie Vogelflügel, in deinen Augen schimmert das ganze weite Land. Nimm sie mir nicht weg, jetzt, wo ich so deutlich fühle, dass ich sie nicht verlieren darf. Jetzt, wo ich anfange zu ahnen, wie es heißen könnte, dieses Gefühl. Geh nicht fort von mir.
    Sie strich mit den Händen schwerfällig durch das Gras,
suchte, rief nach den blauen Blütenköpfen, wie sie es schon einmal getan hatte, in höchster Not, allein auf dem Feld mit Viorel. Meinte, ein Aufleuchten zu sehen, hier und da, ein helles Blinken zwischen den Halmen, das sofort wieder verschwand.
    Kommt doch, kommt doch …
    Grashalme knickten, zerrissen. Aber der Feenkreis formte sich nicht neu, und Karol - Karol regte sich nicht.
    Er regte sich nicht, und allmählich verstummte das Bitten in ihr. Sie saß nur noch da, lauschte auf die Worte, die nicht aus seinem blassen Mund kommen wollten; und auf den Regen, der langsam stärker wurde.
    Wofür?, schien er zu wispern. Wofür, wofür das alles? Schöne weiße Schwäne wieder auf den Teichen und Seen, für alle zur Freude, zum Träumen, zum Wünschen - und für Mina? Nur das Gutshaus voller Staub und Schatten, lange bleiche Tage hinter Spitzengardinen. Vergessen irgendwann, das tiefe Grün der Blätter im Wald, das samtige Braun feuchter Erde. Vergessen, versinken; schlafen, noch schwerer, noch tiefer als der Taterkönig, der nicht erwachen wollte. Wofür? Keine Schwäne für Mina. Nur ein Ende, das keines war.
    Und Karol rührte sich nicht.
     
    Wie lange der Gedanke brauchte, um

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