Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
war, das das klare Bachwasser getan hatte, als es Minas Kehle hinunterrann, es hatte nicht nur ihre Sprache fortgespült. Ihre Sprache, nach der sie mit der Zunge tastete und suchte, immer verzweifelter, je länger die Stille anhielt, mit den Fingern sogar schließlich; als ob etwas verschlossen worden wäre, das sie nur wieder öffnen musste. Aber so war es nicht, und je wilder sie nach ihrer Sprache suchte, desto heftiger merkte sie, dass nicht nur sie fehlte.
Das Wasser hatte alle Geräusche mit sich genommen. Jedes Hüsteln. Jedes Räuspern. Jeden Laut von Schrecken, von Staunen. Das Einzige, was in ihrem Mund noch klang, war der Hauch ihres Atems, flach und tonlos, wie der Wind, der über Steine weht.
Mina lauschte ihm. Am Bachufer, lange, nachdem die Tränen in Liljas Kleid versickert waren; die nutzlosen, brennenden Tränen, die erst Erschrecken vergossen, dann Erkenntnis, dann Entsetzen. Lange, nachdem sie die tröstenden Arme schüchtern von sich geschoben hatte und Zinnis traurige Augen zwischen den Erlenstämmen verschwunden waren, saß sie allein am Ufer und lauschte ihrem Atem. Nur er sagte ihr noch mit Sicherheit, dass sie da war.
Sie saß da, und sie starrte hinüber zum anderen Ufer, kaum zwei Armlängen entfernt; auf die kleine, rote Blume, die unschuldig blühte und flammender strahlte, je tiefer die Sonne sank. Die immer noch Geheimnisse versprach, Schätze, wie Lilja gesagt hatte. Es müssten, dachte Mina bitter, Berge von Edelsteinen sein, die sie versteckt, damit es diesen Preis rechtfertigt …
Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, das Starren, das sich nicht losreißen konnte, das sinnlose Lauschen und die einsame Stille, in der das fröhliche Plätschern des Baches überlaut und verräterhaft klang. Sie rappelte sich auf und suchte sich den Weg durch die niedrigen Sträucher, dorthin, wo die Weide ihre Zweige in das Wasser tauchte, als füllte sie den ganzen Bach mit ihrem Kummer. Die schwermütige Tränenweide … Dort lag er, Karol, auf dem Rücken ausgestreckt, die Hände über dem Bauch umeinandergelegt. Die kleinen blauen Blütenköpfchen schimmerten
um ihn her. Jedes Hälmchen auf dem Boden, jede Falte in seinem grauen Mantel war noch am selben Platz. Er lag und schlief, mit fest geschlossenen Augen, umfangen von der Weide und den Feenblumen, dem zarten weißen Schleier und dem Schweigen.
Mina legte ihr Bündel vorsichtig vor der Drehorgel ab. Einen Moment fürchtete sie, das seltsame Instrument würde wieder zu spielen anfangen. Sie hätte es nicht ertragen. Aber das bemalte Holz blieb stumm, als respektierte es die Stille. Blätter raschelten, als Mina sich einen Platz unter dem Weidenbogen suchte. Sie bettete den Kopf in eine Armbeuge und rollte sich an Karols Seite zusammen.
Und sie schwiegen.
Weidenblätter fielen dann und wann auf sie herab, auf seine bleiche Stirn, auf ihre Wange und ihren Scheitel. In der Stille verursachte ihr Fallen ein Geräusch, feiner als alles, was Mina bisher gehört hatte. Tautropfen mochten solche Geräusche hervorbringen, wenn sie auf Spinnennetzen zitterten; Schmetterlingsfühler, wenn sie nach der Sonne tasteten. Es vermischte sich mit dem Bachgeplauder und mit ihrem Atem; seinen hörte sie nicht. Aber sie konnte sehen, dass seine Brust sich schwach hob und senkte.
Zwischen den Wimpern sah sie ihm beim Atmen zu. So lange, bis die Träume, die mit den schmalen Blättern aus der Weide rieselten, sich auf ihren Augenlidern gesammelt hatten, sie sanft herunterdrückten und der Schlaf alle Geräusche fortwischte.
Tatergesichter umringten sie, als sie erwachte. Alle Tatergesichter, von Nads struppigem Kinn bis hin zu Zinnis runden Augen. In einem schiefen Kreis knieten und hockten
sie um sie herum, redeten leise miteinander wie an einem Krankenbett. Aber als Rosa sah, dass Minas Augen offen waren, klatschte sie in die Hände, als wollte sie die Stille verjagen.
»Mina! Mina, geht es dir gut?«
Alle sprachen plötzlich wild durcheinander. Hände streckten sich nach ihr aus, strichen ihr Blätter aus den Haaren, halfen ihr dabei, sich aufzusetzen. Sogar Pipas kleiner, roter Mund sah für einmal nicht missmutig und unzufrieden aus. Es schien, als hätten sie alle seit Stunden nur darauf gewartet, dass Mina wieder zu sich kam.
Sie fühlte die Wärme, die von ihnen ausging. Sie zog ein Lächeln auf ihr Gesicht, ein verschlafenes, verwundertes, noch kaum bewusstes Lächeln; ein Lächeln, das sofort wieder verging, als sie den Mund öffnete, um
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