Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
blicken, in grüne, wiegende Muster hinein. Zarte Formen bildeten sich hinter ihren Lidern. War es die Morgensonne, die durch die Äderchen schimmerte? Es sah wirklich fast so aus wie Zweige … Langsam drehte Mina den Kopf hin und her. Die Zweigformen schwebten über ihr, wurden deutlicher, während sie unwillkürlich den Atem anhielt. Dunklere Stellen, wie Knorren an dicken Ästen. Hellere Flecken, als ob Licht sich auf Blattunterseiten brach. Ein leises Knacken unter ihrem Schuh; ohne nachzudenken senkte sie den Kopf, aber sie öffnete die Augen nicht dabei. Trockene Rinde wisperte auf dem weichen Boden, seegrünes Moos in sanften Wellen überall um sie her, und da, gar nicht weit entfernt, war sie immer noch, die kleine, rote Blume.
    Sie wippte mit dem Köpfchen in dem leichten Wind, der zwischen dunklen Stämmen hindurchstrich. Mina machte einen Schritt nach vorn, bückte sich, streckte die Hand nach ihr aus. Die feuchten Blütenblätter streichelten über ihre Fingerspitzen. Sie beugte sich so weit nach unten, dass sie den goldenen Schimmer sehen konnte, der an den winzigen Staubgefäßen haftete. Als sie ausatmete, flog etwas davon auf und legte sich wie Feenpuder auf ihre Haut.
    Lilja, flüsterte Mina lautlos, Nad … Was geschieht hier?
    »Der Wald«, sagte Nad leise irgendwo in ihrer Nähe, »der Wald ist älter als das älteste Feld. So alt wie das Licht, das
durch seine Blätter streift. So alt wie die Dunkelheit, die sich auf das Moos zu seinen Füßen legt. Bäume vergehen nicht, Mina. Sie werden geschlagen und gerodet, werden zu Hauswänden oder Karren, zu Kinderbetten oder Galgen. Sie wärmen, wenn sie sich im Feuer verzehren. Aber sie vergehen nicht. Selbst die Asche erinnert sich noch an das, was sie war. Und der Wald ist in jedem einzelnen Stäubchen, das über die Türschwelle fortgeweht wird. Steine, sagt man, messen die Ewigkeit. Bäume messen die Zeit. Solange es Zeit gibt, gibt es den Wald. Siehst du die Blume noch?«
    Mina nickte langsam, wie in einem Traum. Sie richtete sich auf, die Blume glänzte über dem Moos. Eines der Blütenblätter schien im Wind davongeweht zu sein, ein winziger roter Flecken schimmerte ein Stück entfernt. Vom Bachlauf weg, den es auch hier zu geben schien, nur mit grünlichem Wasser. Als Mina behutsam näher ging, sah sie, dass es eine zweite Blume war, so klein und so vollkommen wie die erste.
    »Es ist ein Weg«, sagte Lilja. »Ein Weg irgendwohin. Zu einem Schatz vielleicht. Du kannst ihn gehen, wenn du willst.«
    Allein? Hastig wandte Mina sich um. Da stand sie, da standen alle Tater, und das Muster der Blätter tanzte auf ihren Gesichtern. Sie lächelten. Und schienen nicht im mindesten überrascht.
    »Wir sind hier, bei dir«, sagte Rosa leise. »Hab keine Angst. Es ist wirklich. Der Wald ist wirklicher als alles andere.«
    Mina hörte es rascheln, irgendwo im Unterholz. Sie hob die Hand, berührte ihre eigenen Wimpern. Sie waren nicht geschlossen.

    Wieder raschelte es, und irgendwie wusste sie, dass es Tausendschön war, der nach den Waldmücken sprang. Das Geräusch war so munter und verspielt, es löste etwas von der Anspannung in ihr. Sie senkte den Blick und schaute wieder nach vorn.
    Viele rote Punkte sprenkelten das Moos; wie Blutstropfen. Sie bildeten eine geschwungene Linie, die sich durch das dunkle Grün zog, unter den Bäumen entlang. Ein Weg irgendwohin …
    Mina hob wieder den Fuß, aber ein Gedanke ließ sie zurückzucken. Was, wenn sie in der Wirklichkeit irgendwann an einem Abhang stand oder an einer Straße? Wie sollte sie die Kutschen sehen, die Felsen, die Dörfer, die vielleicht dort lagen, wo der Wald sich einmal ausgedehnt hatte? Würde sie wie eine Verrückte zwischen Bauernkaten umherstolpern, wirre Worte murmelnd, die niemand verstand, nach Baumstämmen tastend, wo nur Steinwände waren? Wie öffnete sie die Augen wieder?
    Hinter sich hörte sie Zinni lachen.
    »Hier bin ich, Mina.« Seine Stimme klang laut und fröhlich, ganz so wie immer. »Hier, hinter der dicken Eiche. Siehst du mich? Wir können Verstecken spielen. Los, Mina, zähl bis hundert, und dann suchst du mich.«
    »Später, Zinni«, sagte Nad. »Mina muss sich erst noch daran gewöhnen. Es ist ihr erstes richtiges Mal im Wald.«
    »Oh, ja.« Zinnis rundes Gesicht tauchte hinter dem Baumstamm auf. Er kam zu Mina herüber.
    »Du hast es sehr gut gemacht«, sagte er ernsthaft. »Vor allem für ein erstes Mal.«
    Aber ich habe doch gar nichts gemacht, dachte Mina

Weitere Kostenlose Bücher