Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
nach der Zeit zu fragen, und die fehlenden Töne sie schmerzhaft erinnerten. Sie fuhr sich mit der Hand über die Lippen, als könnte sie so das Schweigen wegwischen.
»Meine Liebe«, sagte Tausendschön und wand den schwarzen Kopf zwischen Taterknien hervor. »Meine Liebe, wir haben uns Sorgen gemacht. Sie schliefen so tief, sie waren nicht wach zu bekommen. Man konnte fast befürchten …«
Er warf einen Blick zum Taterkönig hinüber. Karol hatte die Augen nicht geöffnet. Ein Dutzend Weidenblätter bedeckte seine Stirn wie eine grüne Kappe. Beinahe hätte Mina die Finger ausgestreckt, so nah fühlte er sich an, trotz des dünnen Schleiers. Aber sie wagte es auch diesmal nicht.
Sie schüttelte nur den Kopf, zwang das Lächeln zurück an seinen Platz; die besorgten, freundlichen Gesichter ließen ihr gar keine andere Wahl. Als sie nach oben schaute,
war das Licht, das durch die Weide fiel, weich und mild; es musste noch früh sein. Oder wurde es schon wieder spät?
Lilja sah wohl ihren hilflosen Blick. »Es ist vor einer Weile Morgen geworden«, sagte sie und schüttelte Minas Rock auf. »Morgen genug jedenfalls, um aufzustehen und dem Tag ins Gesicht zu sehen. Vor allem, wenn es etwas gibt, was man erledigen will.«
»Glaubst du wirklich«, brummte Nad und legte die Stirn unter dem Hutrand in Falten, dass seine Augenbrauen sich aufsträubten, »dass sie jetzt gleich …«
»Ja«, sagte Lilja rasch, und eigenartigerweise fühlte es sich so an, als ob sie Recht hätte.
Mina wollte nicht hocken bleiben und hoffen und warten, dass zurückkam, was verschwunden war. Sie wollte sich nicht unter den mitleidigen Blicken zusammenkrümmen wie ein Wurm, der auf dem kalten Straßenpflaster liegt. Es war ihre Entscheidung gewesen; ihre Entscheidung ganz allein. Eine dumme, eine furchtbare Entscheidung. Aber ihre. Und sie hatte einen Grund gehabt. Auch, wenn er ihr jetzt blass und unscheinbar vorkam.
Sie versuchte sich zu räuspern, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Und weil sie es auch nicht wirklich erwartet hatte, erfüllte es sie mit einer grimmigen Befriedigung.
Sie schüttelte die letzten Blätter ab, stützte sich mit beiden Händen im Gras ab und stand auf. Die Blume würde immer noch am Bachufer stehen; dort stehen und leuchtende Versprechen machen. Und Mina würde nicht fortgehen, ohne wenigstens versucht zu haben, ob sie sich erfüllten.
»Dann lass uns gehen, meine Kleine«, sagte Nad, und
sein bärtiges Lächeln schmolz den Zweifel aus seinem Gesicht und glättete die struppigen Brauen. »Du siehst nicht so aus, als ob du erst das Frühstück abwarten willst.«
Einen kleinen Moment war Mina stolz auf sich, dass sie genauso gut über den Bach kam wie die Tater, nicht abrutschte und gar zu kurz sprang und platschend im Wasser landete. Aber als die Tater sich am anderen Ufer um sie und die rote Blume versammelten, spürte sie sich innerlich zusammenschrumpfen. Sie hatte keine Vorstellung davon, was sie jetzt tun sollte. Ihre Hände krampften sich ineinander.
»Schließ die Augen, Mina«, sagte Nad.
Aber was soll ich …, formten ihre Lippen tonlos. Sie legte sich die Hand auf den Mund, wieder, eine schnell gelernte Angewohnheit. Nad sah sie voller Mitleid an.
»Schließ die Augen«, wiederholte er sanft. »Du hast deinen Preis bezahlt. Und du kannst alles, was hierfür nötig ist. Vertrauen, Mina. Ja?«
Sie tat, was er wollte, und der junge Tag verlosch. Dunkel umgab sie hinter ihren gesenkten Lidern; ein Dunkel, in dem es rauschte. Ein vertrautes Rauschen … Wie Blätter, die sich in einem Sommerwind bewegten. Viele Blätter. Viele Zweige. Ineinander verflochten, verwachsen, verwoben. Ein lebendiger Teppich, aber er hing über ihrem Kopf, statt dass er auf dem Boden lag …
Sie keuchte stumm und riss die Augen wieder auf. Die kleine Lichtung, wie ein Spiegel des Taterlocks am anderen Ufer, lag hell vor ihr, nicht mehr als ein paar Büsche an ihrem Rand; und die rote Blume schimmerte zwischen den dünnen Gräsern. Sie regten sich nicht.
»Vertrauen, Mina«, sagte Liljas Stimme auf ihrer anderen
Seite. »Die Welt ist nicht da draußen. Sie ist in dir. Sie verschwindet nicht, wenn du die Augen zumachst.«
Wieder ließ sie das Dunkel herabsinken. Wieder begann es um sie her zu rauschen und zu flüstern, wieder webte sich der Teppich über ihrem Kopf. Dieses Mal hob sie das Kinn, schluckte die Vorstellung hinunter, wie albern sie aussehen musste; hob das Kinn, als wollte sie nach oben
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