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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Terrasseneinfassung, höher als man selbst, bei der es an beiden Seiten steil nach unten ging.
    »Ja«, sagte sie, und es war wie immer, wenn sie Geschichten erfand: Während sie es sagte, fühlte es sich wahr an.
    »Gut.«
    Zinnis Augen flogen zwischen ihr und Mina hin und her. Er war ganz still.
    Lilja beugte sich weit nach vorn und strich mit flachen Händen über das Wasser des Baches. Mina sah deutlich, dass sie die Oberfläche nicht berührte, und doch kräuselte es sich und wellte sich in Ringen auseinander. Dann tauchte
Lilja beide Hände ein, und als sie wieder hochkam, glänzte Wasser darin wie in einer Schale. Es war so klar und durchsichtig, dass Mina die feinen Falten in den Handflächen sehen konnte, die es hielten.
    »Wenn du es willst, Mina«, sagte Lilja, »dann trink dies, und du wirst den Preis bezahlen, den du bezahlen musst. Ich kann dir nicht sagen, was es sein wird; auch wenn ich eine Ahnung davon habe. Du kannst eine Erinnerung verlieren, an der du sehr hängst; ein Gefühl, dass dir lieb und teuer ist; eine Fähigkeit, oder auch die goldene Farbe aus deinen Haaren. Ich weiß es nicht. Das Wasser wird es entscheiden.«
    Mina starrte auf Liljas Hände. Nicht ein Tropfen rann zwischen den Fingern hindurch.
    »Aber es ist - nur Wasser«, sagte sie sehr leise.
    Lilja lächelte. »Ja, nur Wasser. Wie der Bach, von dem die Weiden leben. Wie die Schlei, die das Land geschaffen hat. Wie das gewaltige Meer, das alles umfängt. Wie wir, Mina. Nur Wasser. Wasser und ein bisschen Staub.«
    Mina senkte den Blick, aber durch die Wimpern hindurch sah sie weiter auf die glänzende Feuchtigkeit in Liljas Händen.
    »Werde ich es zurückbekommen? Das, was ich verliere?«
    »Das ist möglich.« Liljas Hände hielten das Wasser so ruhig, als wäre sie eine Statue. »Aber ich kann es dir nicht versprechen. Manchmal ist es so. Manchmal nicht.«
    Mina hob den Kopf und sah die kleine, rote Blume an. Die Tulpen kamen ihr wieder in den Sinn; die bunten Tulpen hinter dem Haus der Tante. Der flirrende Irrsinn hinter den schweigenden Gardinen … Nein. So war es nicht gegangen. Sie hatte es auf dem alltäglichen Weg versucht,
und er hatte sich in einen Alptraum verwandelt. Einen Alptraum aus grellem Licht. Wenn die rote Blume auch unter den Bäumen des seltsamen Wunderwaldes blühte … Dort war es kühl und schattig gewesen, samtig grün und voller Düfte. Dort hatte es keine beißende Mittagssonne gegeben. Keine toten kleinen Vögel. Und keine Hunde.
    Sie senkte den Kopf schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Das Wasser berührte ihre Lippen; Lilja hob die Hände an, und es rann durch Minas Kehle, kalt wie Schnee. Sie verschluckte sich, hustete. Der letzte Rest lief ihr übers Kinn.
    Sie richtete sich wieder auf. Tastete unwillkürlich nach dem langen Zopf auf ihrem Rücken, zog ihn sich über die Schulter. Nein, er war strohfarben wie immer. Unter Zinnis gespannten Blicken drehte sie sich in ihrem Kopf um sich selbst, versuchte sich umzusehen, herauszufinden, was fehlte. Es schien alles wie vorher zu sein. Sie wusste, wer sie war, woher sie kam und wohin sie wollte.
    In den Stiefeln wackelte sie mit den Zehen. Bewegte die Finger, drehte den Hals. Zinni kicherte.
    Es ist alles in Ordnung, wollte Mina erleichtert sagen, alles gut, mir fehlt nichts, oder nichts, was ich merke.
    Sie wusste, dass sie die Lippen geöffnet hatte, und dass ihre Zunge sich bewegte. Sie fühlte sie an den Zähnen.
    Aber kein Laut kam aus ihrem Mund.
    »Ja«, sagte Lilja langsam. »So etwas hatte ich befürchtet. Meine arme Kleine.«
    Sie lächelte voller Mitleid.
    »Warum sagt sie nichts?« Zinni rutschte auf den Knien hin und her. »Lilja, warum sagt sie nicht, was passiert ist?«

    Mit einer ihrer Haarsträhnen wischte Lilja die Feuchtigkeit von Minas Kinn.
    »Sie kann nicht, mein Augenstern. Nein, sie kann es nicht mehr.«

    Es hätte sich anfühlen können wie eine schwere Halsentzündung, eine Erkältung, nicht rechtzeitig bemerkt, bei der man sich einen dicken Schal um den Nacken schlang, tropfheiße Wickel darunter, und mit den Händen redete. Es hätte sein können wie eines der Spiele, die man auf Kindergeburtstagen spielte, wo es darum ging, den Mund zu halten, bis man fast platzte. Es hätte ein Geheimnis sein können, eine vertrauliche, brennend interessante Beichte, unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten und von da an jede Minute ganz vorn auf der Zungenspitze. Doch es war nichts von alledem.
    Was auch immer es

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