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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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Böschung hinauf, wo kein Anschlußzug wartete. Immerhin gebe es einen — erfuhren wir. Er stehe einige Kilometer entfernt im nächsten Ort, gleich hinter der Zonengrenze. Zonengrenze — das Wort löste Griffe nach den Brusttaschen unserer Jacketts aus. Hatten wir wirklich alle erforderlichen Papiere? Würde man uns durchsuchen? Aufhalten, so daß wir den Zug versäumten?
    Wir reihten uns ein. Niemand sprach. Die andern hatten wohl ähnliche Gedanken. Der Querfeldeinmarsch vollzog sich ohne Hast. Alle waren beladen, mit Koffern, Rucksäcken, Körben, ausgebeulten Aktentaschen, Schicksal. Deutschland auf der Walz. Kleidung zeigte scheue Ansätze zu einer Notmode, Qualität und Zuschnitt ließen frühere Lebensumstände erahnen.
    Die meisten Frauen trugen das kleine Fluchtcomplet, Kopftuch, Mantel mit unbeugsam eckig ausgestopften Schultern, darunter Wollkleid, darunter lange Hosen oder hie und da Pumphosen im Dunkelblau damaliger Trainingsanzüge, einen Faltenrock, dazu dicke weiße Wadenstrümpfe mit Zopfmuster, selbstgestrickt vermutlich, und Skistiefel. Auch Pelzmäntel, Felle jener undefinierbaren Tierarten, wie sie nach dem Frankreichfeldzug als Beute aufgetaucht waren, dazu Schaftstiefel. Auf solches Eroberungsschuhwerk verzichteten die Männer völlig. Sie gaben sich zivilistisch mit Schlapphüten, die Krempe, wie aus schlechtem Gewissen, rundherum nach unten gestülpt. Keine Schirmmützen. Gelegentlich ein Professorenkopf mit Baskenmütze und Wollschal. Überall Hungerhälse aus schlotternden Hemdkrägen, doch alle mit Krawatte. Graue Leder- und schmalschultrige Militärmäntel, ohne Epauletten, mit Hornknöpfen zivilisiert, blaue Doppelreihersakkos mit Marinevergangenheit, lange Wehrmachtspulloverärmel, die aus zu kurzen Sakkos ragten, weite Hosen, ohne Spurenelemente von Bügelfalten, schwere Schuhe, die den Gang verfälschten und immer wieder, wie Accessoires aus zu großer Zeit, ein kantiges Herrenreitergesicht in jagdlichem Grün. Jagdlich — die bevorzugte Ziviluniform ehemaliger Haudegen, die nie verlieren konnten. So standen sie in der Schlange, die sich zusammenschob, wie ein Regenwurm, der hinten noch kriecht, während er vorne schon hält. Zonengrenze.
    Wir rückten nach. Und staunten. Wie kleine Buben, die Zollkontrolle spielen, standen da aufgepfaute Säbelrassler, bemüht, hinter wichtigen Mienen Langeweile zu verbergen. Unsere gallischen Nachbarn trieben es bunt. Sie hatten nicht nur den Fahnenmast, an dem eine schlaffe Trikolore baumelte, blau-weiß-rot angestrichen, sondern auch die Pflastersteine rund um den Stamm. Vermutlich trugen sie blau-weiß-rote Ringelunterwäsche.
    Bei den Überseeischen stand ein Jeep mit aufmontiertem Maschinengewehr so geparkt, daß jeder an der Mündung vorbei mußte. Vielleicht war im Lauf ein Kameraobjekt versteckt, denn die drei Insassen mit ihren Schokoladegesichtern und der Bewegungsgrazie von Stammeskriegern sahen eher nach Fotosafari aus. Zwei der Burschen standen vorgebeugt im Weg, als bestünden sie nur aus Helm und Händen. Sie schauten unsere Papiere an, flüchtig, wie Tenöre in einer Militäroperette. Es fehlte nur die ironisch-martialische Musik aus der Verfilmung von Günter Grass’ Blechtrommel. Friedrich Meyer sollte sie fünfunddreißig Jahre später schreiben.
    Das Trauma auf der Rauhen Alb — so heißt die Gegend — löste sich in Veteranenlächeln. Da waren wir anderes gewöhnt! Dabei hätte ein Blick in unsere Rucksäcke genügt, um die Weiterreise wesentlich zu verzögern. Der monatliche Verpflegungssatz des sogenannten Normalverbrauchers bestand aus 800 Gramm Fleisch, 400 Gramm Fett, 600 Gramm Nährmittel, 125 Gramm Käse, 125 Gramm Quark, 10250 Gramm Brot, 16 Kilogramm Kartoffeln, 3,5 Liter Magermilch und 200 Gramm Kaffee-Ersatz. Unsere Reiserationen überstiegen diese Kalorienmenge mühelos. Wir führten Speck mit, Butter, Eier, Honig, einige Kilo Quark in der Blechdose, Schokolade und fühlten uns durchaus im Recht, so wenig das damals bedeutete. Eine Sonderbescheinigung machte uns gelassen: Artist. Gegebenenfalls hätten wir’s beweisen können.
    Es ging weiter. In einem veritablen Personenzug gen Stuttgart. Die Muttis waren wir los. Doch das weibliche Element blieb. Über mehrere Bänke hinweg hatte Freund Friedrich ein sinnliches Blickband geknüpft, welches alsbald zu einer Umgruppierung führte. Mit blauer Pupille umrandete er konvexe Merkmale und mir wurde klar, daß ich den Abend allein würde gestalten müssen.
    Wen

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