Der Sieg nach dem Krieg
Junge Literaten machten sich in weiten Hosen auf Standpunktsuche, Zimmergrübler öffneten Innentüren und rührten Empfindsamkeiten zu Lyrikbändchen an. Manches geriet unfreiwillig komisch, wenn auch nicht im Ausrutschformat einer Friederike Kempner, die alles vorausgeahnt hatte:
Wie die Rose unter Dornen
steht das Ideelle jetzt,
nur das scheußlich Materielle
kommt zuerst und kommt zuletzt.
Wahre Werte wurden wieder wichtig, Tugenden wurden ins Zivilleben transportiert. Haperte es mit den Versorgungstalenten, erinnerte man sich ersatzweise seiner Erziehung und Herkunft, des kulturellen Erbes des Abendlands bis hin zu Venus und Thales von Milo und Milet. Vor allem aber und mit Verve erinnerte man sich seines besseren, für den Augenblick gar nicht sonderlich geeigneten Ichs. Unvermögen mit Stolz zu entschuldigen, war in diesen Kreisen ein verbreitetes Haltungsspiel, das gern in der Feststellung gipfelte, man sei schließlich Deutscher. Das bedeutete zwar nicht mehr Widerstand bis zum letzten, getreu dem Fahneneid, wohl aber Bewahrung jener Werte. Hochmut kam auch nach dem Fall. Man beanspruchte Ritardando beim Umlernen.
Saloppes Gegengewicht bildete der aus der inneren Emigration zurückgekehrte Sarkasmus. Auch er konnte Tradition vorweisen, aus dem Berlin der späten Zwanzigerjahre. Tucholsky, Kästner, Mehring durften wieder gelesen und vorgetragen werden. Satire aus vergangenen schlechten Zeiten provozierte Vergleiche. Zynismus machte Mut. Ein Abend in der Schaubude brachte manchen, der noch an Deutschland litt, aus dem Häuschen, so daß die Ehefrau später jubeln konnte: Horst war so gelöst wie nie!
Hellmuth Krüger, genannt das baltische Plaudertäschchen, Conferencier des Etablissements, stimmte das Publikum ein. Wie das vor sich ging, hat er mir mit seinem baltischen Akzent verraten: »Wenn ich vor den Vorhang trete, habe ich drei Sätze. Denn es jibt nur drei Sorten Publikum, die Dummen, die Schwerfälligen und die Intellijenten. Für jede Sorte habe ich einen Satz. An den Reaktionen merke ich, wie die Mischung ist, und auf dem Niveau bestreite ich dann den janzen Abend !«
Ein Heißhunger, gerade nach Niveau, war unbestritten. Mangel, Verordnungen und Willkür zerrten an den Nerven, die Abende gehörten dem Vergessen. Viele allerdings brachten den ganzen Tag damit zu, voller Sorge, daß
Nachbarn und Bekannte sich nur ja nicht allzu deutlich erinnern mögen.
Das kulturelle Angebot übertraf kühnste Träume. In den ersten zwölf Monaten seit der Befreiung wurden über ein Dutzend Theaterstücke inszeniert, darunter Macbeth, Nathan der Weise, Herodes und Marianne, Iphigenie, Passagier ohne Gepäck, auch Molnars Spiel im Schloss, Ambessers Lebensmut zu hohen Preisen. In Schulen, Sälen, selbst in einem Cafe entstanden neue Theater, praktisch alle acht Wochen kam eine Oper heraus, Tosca, Fidelio, Madame Butterfly, Tiefland. Vier Kabaretts übten die Freiheit, wieder mehr sagen zu dürfen. Die frisch lizenzierte Süddeutsche Zeitung sagte zu viel und stieß mit einem Artikel über Ausgewiesene aus der CSSR an die Grenze der Importdemokratie. Konzerte, Filme, Ballette, Puppen- und Singspiele, Ausstellungen, Lesungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, ja sogar eine Schlittschuhrevue Melodie auf dem Eis, erfreuten Publikum wie Veranstalter. Der Bereitschaft und regen Nachfrage wegen stellten sich mögliche Talente auf einer Brettlbühne vor oder in Frage. Auch Stromsperren, Zivilkontrollen gegen Schwarzfahrer auf den Trambahnen und Verhaftungen von Personen, die Mäntel aus US-Armeedecken trugen, sorgten für Abwechslung.
Wir jungen und nicht mehr ganz jungen Jugendnachholer saßen nachts vor dem Radio, um zu hören, was wir endlich ungestraft hören durften: Swing von AFN, dem American Forces Network, wie der alliierte Soldatensender hieß. Wenn Mark White, der kleine, zierliche Discjockey mit der sonoren Stimme im Programm Midnight in Munich die Platten ankündigte und abspielte, schwelgten wir in unserem Lebensgefühl. Schon mittags hatten wir Swing getankt. Bei Luncheon in München , einer täglichen Sendung aus dem ehemaligen Palais des Malers Friedrich August Kaulbach.
Ältere Ohren sehnten sich nicht gerade nach dem Verbot zurück, unsere Genußlautstärke störte sie jedoch erheblich. Das war keine Musik mehr, das war ein aufsässiges, skandalöses Rütteln an bestehender Ordnung, die ohnehin bröckelte.
»Genau so ging’s schon den Großeltern beim Walzer !« meinte ein Freund. Durch
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