Sonnenkoenig
Prolog
Der Dalai Lama stand
am Rednerpult in der Mitte der Bühne. Lässig stützte er sich mit dem nackten
Arm ab und rückte mit der verbleibenden Hand seine runde Nickelbrille zurecht.
Jede seiner Bewegungen wurde auf der riesigen Leinwand hinter ihm
überdimensional übertragen. Auf orangefarbenen Stellwänden neben der Leinwand
prangten Fotos des großen Meisters, darunter je ein Zitat eines weisen Spruchs,
den er irgendwann einmal geäußert hatte. Rechts und links neben den Stellwänden
standen sehr dekorativ Behälter mit üppigen Blumensträußen.
Die Landeshauptstadt Hessens
richtete die Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des Tibeters aus und alle waren
gekommen. Man hatte es sich etwas kosten lassen, dieses weltweit beachtete
Ereignis auszugestalten. Der Ministerpräsident war stolz darauf, seinen
langjährigen Freund, den Stachel im chinesischen Machtgehabe, an dessen
Ehrentag in Wiesbaden zu begrüßen, zumal unzählige Länder via Liveschaltung
Zeuge dieser Zeremonie waren.
Der Friedrich-von-Thiersch-Saal
im Kurhaus war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die, die etwas galten in der
Stadt, die etwas zu sagen hatten oder es verstanden, diesen Schein zu erwecken,
waren anwesend. Natürlich waren die Größen der Wirtschaft mit ihren zahllosen
Verbänden ebenfalls vertreten. Andrej Doran Rolozko hatte über seine diversen
Agenturen und Unternehmungen das Ganze organisiert und zuwege gebracht, und
damit nicht nur einen großen finanziellen Beitrag zur Ausrichtung des Festes
geleistet. Nun saß er zufrieden an einem der exponierten Tische, neben sich
Minister, Staatssekretäre und die dazugehörigen schönen und repräsentativen
Damen. Nicht nur verstohlene Blicke taxierten den gut aussehenden, galant und
selbstsicher auftretenden 45-jährigen Geschäftsmann. So manche gelangweilte
Dame an den Nebentischen signalisierte ganz offen, nicht abgeneigt zu sein, mit
ihm, dem Macht und Reichtum ausstrahlenden Junggesellen, das eine oder andere
auszutauschen. Aber Rolozkos Interesse galt an diesem Abend einer einzigen
Person. Vor wenigen Minuten hatte sie den Raum betreten und stand unschlüssig neben
der Eingangstür. Sie trug ein rotes, sehr kurzes, oben eng und unten weit
geschnittenes Kleid aus hauchdünnem Stoff, dazu rote Ballerinas. Die
dunkelblonden Haare hatte sie hochgesteckt, in der Hand hielt sie eine dem
Farbton der Schuhe entsprechende rechteckige Handtasche. Zuerst hatte er sie
nicht erkannt, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Schmerzhafte Erinnerungen stiegen auf, Erinnerungen an eine seiner wenigen
Niederlagen. Er verspürte den gleichen Hass und das gleiche Verlangen nach
ihrem Körper wie vor zwölf Jahren.
Jetzt hatte sie ihn ebenfalls
gesehen. Er winkte ihr. Sie winkte zurück. Er bedeutete ihr, an seinen Tisch zu
kommen. Sie nickte und kam.
1. Kapitel
I. Du siehst blendend aus
Das Dröhnen der
Motoren wurde schwächer. Der Airbus verlor schnell an Höhe, gleichzeitig kippte
die Maschine nach links ab und der vibrierende Flügel zeigte wie ein Finger auf
die nur schemenhaft sichtbare Mainmetropole. Der Landeanflug ging in seine
Endphase.
Carla Cosian blickte aus dem
Fenster. Zerfetzte Wolken schossen vorüber, wie ein Messer durchschnitt das
Flugzeug im Gleitflug die graue Dunstschicht über Frankfurt. Carla steckte die
Modezeitschrift, in der sie eine geraume Zeit nicht gelesen, sondern nur geistesabwesend
geblättert hatte, ins Netz an der Rückenlehne des Vordersitzes. Seit Stunden
versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen und ihre Gedanken irgendwie zu
ordnen, sie zu sortieren. Nicht nur, was vor ihr lag, beschäftigte sie. Die
vergangenen Tage in Buenos Aires wirbelten gleichermaßen in ihrem Gehirn umher
und projizierten unaufhörlich wirre Bilder. Mit der linken Hand griff sie sich
unbewusst ans Ohrläppchen, massierte es und neigte dabei den Kopf etwas zur
Seite. Im letzten Moment hatte sie sich doch noch entschlossen, die Einladung
ihres Vaters anzunehmen, und war vergangenen Mittwoch nach Argentinien
geflogen.
Als sie das Gebäude
des Internationalen Flughafens Ministro Pistarini in Buenos Aires verließ,
wurde sie lediglich vom Botschaftschauffeur erwartet. Der kleine, etwa 30 Jahre
alte Argentinier manövrierte den schwarzen Mercedes der S-Klasse ruhig und
gelassen durch den chaotischen Verkehr der Vorstadt Ezeiza. Carla hätte sich
gefreut, wenn ihr Vater Bruno
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