Der Sieg nach dem Krieg
Geheimnis. Nachmittags zog er los, die Waren zu besorgen, am Vormittag wurde verkauft. Um sein Privatleben möglichst wenig zu stören, wickelte er die Geschäfte im Schlafzimmer ab. Kam ein Kunde, mußte seine Frau ihn wecken. Wegen Geld aufzustehen, wäre zu viel der Mühe gewesen.
Meist öffnete er nur ein Auge. Erschien ihm der Kunde vertrauenswürdig, hörte er sich seine Wünsche an und hob dabei ein Bein. Ging’s um Chesterfield und Camel, das linke, bei Lucky Strike und Pall Mall das rechte. Da lagen die Stangen im dämpfigen Fermentierklima unter der Bettdecke. Der Kunde bediente sich, legte das Geld auf den Nachttisch, das Bein senkte sich, das observierende Auge fiel wieder zu. Kein Polizist der Welt hätte den alten Herrn des Schwarzhandels verdächtigt. Dem Vernehmen nach soll auch nie einer gekommen sein. Es sei denn, um Zigaretten zu kaufen.
Wie wenig man sich auf Konventionen noch verlassen durfte, wie fest andererseits Erziehung und Moralbegriffe verankert waren, wurde an Kleinigkeiten deutlich. Bei einem Wiedersehen etwa konnten Floskeln, mit denen man gemeinhin seine Freude bekundet, spontanem Bedürfnis nach Klarheit zum Opfer fallen.
Da kam im Mai 1945, von den Engländern aus einem norddeutschen Gefängnis befreit, ein Freund nach München zurück, in die Stadt, wo ihn die Nazis verhaftet hatten. Zu Fuß ging er ins Heimatviertel Schwabing. Das Ausmaß der Zerstörung, die er zum ersten Mal sah, steigerte sein Überlebensglück, da entdeckte er auf der Leopoldstraße das erste bekannte Gesicht. Die Freude, die er ihm entgegensendete, prallte auf nicht zu übersehende Bestürzung: »Sag mal, Du lebst ja !«
»Wie Du siehst«, triumphierte der Heimgekehrte.
Das bekannte Gesicht erstarrte. »Das ist jetzt blöd...«
Die seltsame Reaktion löste noch keinen Argwohn aus, wohl aber die berechtigte Frage, wieso das blöd sei. »Wenn Du dich erinnerst...« Der andere stockte und begann neu. »Du hast mir vor Deiner Verhaftung ein Paar Skistiefel geliehen. Eines Tages hieß es, sie hätten dich aufgehängt. Wir hatten es auch nicht leicht, da hab ich sie verkauft...«
»Ski Heil !« sagte der Heimgekehrte und gab dem Freund mit Schulterklopfen die Absolution.
Wer ohne die gängigen Kavaliersdelikte wie Papiere fälschen, klauen, schwarzhandeln satt werden wollte, der mußte mit einem besonderen Einfall aufwarten. Sinn für Technik erwies sich dabei als hilfreich. Irgendwie kam Freund Willi an ein Gerät, das ausgedient hatte, gerade nicht benötigt wurde, keinen Interessenten fand und Rost ansetzte. Er holte sich aus dem ehemaligen BMW-Werk einen jener schnellen, wendigen Elektrokarren, wie sie seinerzeit auf Bahnsteigen als Gepäckwagen herumflitzten. Die putzigen Wägelchen gab’s auch als Spielzeug für Kinder. Vor einer Ladeplattform, unter der sich die Batterien befanden, stand der Fahrer in einer hüfthohen Schale und manövrierte das Gefährt vor allem mit einem Handhebel, den er hob oder senkte. Bei frisch geladenen Batterien konnte er den ganzen Tag fahren, nachts mußte am Stromnetz getankt werden. Dazu bedurfte es einer offiziellen Erlaubnis, überhaupt für das ganze Wägelchen. Sonderstrom stand nur lebenswichtigen Betrieben zu.
Freund Willi lackierte seine Neuerwerbung erst einmal fröhlich gelb und meldete sie auf den lebenswichtigen Betrieb eines Freundes an, für den er ab und zu etwas herumkarrte. Nachts stand das immerhin zwei Tonnen schwere Gefährt sicher in der Garage. Da die Steckdose als Kraftquell nicht ausreichte, hatte Willi irgendwo ein Stromkabel organisiert, das sich, gut versteckt, bis hinauf in seine Wohnung schlängelte. Dort endete es im Badezimmer am Warmwasserboiler. Als Diplomtüftler war ihm eine Spezialschaltung eingefallen, die es gestattete, den Akku in drei Tempi zu laden: langsam, mittel und schnell.
Diese umsichtige Maßnahme brachte zusätzliche Vorteile. Beispielsweise konnte er nach vorheriger Schnelladung die nächste Stromsperre umgehen, indem er sozusagen den Rückwärtsgang einlegte. Dann floß die Energie aus dem Wägelchen in den Boiler, das Baby der Familie bekam seine Milch warm und man konnte baden, während andere Mieter im Haus bei Kerzenschimmer kalten Molkeaufstrich auf Brote schmierten, oder darüber rätselten, wieso die Wohnung von diesem verdammten Karrenfahrer in friedensmäßiger Beleuchtung erstrahlte.
War die Stromsperre beendet, schaltete er wieder zurück und mästete das Wägelchen mit neuer Kraft für den nächsten
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