Der Sieger bleibt allein (German Edition)
mit der er selbst früher auf Partys erschienen war und die dann immer zärtlich, leicht und elegant seinen Arm gehalten hatte.
Bevor Igor noch erleichtert aufatmen kann, lässt ihn etwas in die Gegenrichtung schauen. Ein Mann betritt, ohne von den Sicherheitsleuten aufgehalten zu werden, von der anderen Seite den Garten und bewegt den Kopf in alle Richtungen: Er sucht offensichtlich jemanden, und es handelt sich eindeutig nicht um einen Freund, den er in der Menge aus den Augen verloren hat.
Igor geht, ohne sich von der neuen Gruppe zu verabschieden, zurück zur Brüstung, wo immer noch die beiden jungen Frauen stehen und sich unterhalten. Er ergreift die Hand der Schauspielerin, spricht ein stummes Gebet zum Mädchen mit den dichten Augenbrauen; bittet sie um Vergebung, weil er gezweifelt hat; doch er ist eben auch nur ein Mensch, und Menschen sind nicht geläutert, sind unfähig, die Segnungen zu begreifen, die ihnen so großzügig zuteilwerden.
»Finden Sie nicht, dass Sie etwas zu schnell vorgehen?«, fragt die Schauspielerin, macht allerdings keine Anstalten, ihren Arm wegzuziehen.
»Das mag sein. Aber nach allem, was Sie mir vorhin erzählt haben, scheinen sich die Dinge in Ihrem Leben gerade generell sehr schnell zu entwickeln.«
Sie lacht. Das traurige Mädchen lacht auch. Der Polizist geht vorbei, achtet nicht auf sie; er sucht etwa 40-jährige, grauhaarige Männer – ohne Begleitung.
21 Uhr 20
Ärzte sehen immer wieder Untersuchungsergebnisse, die eine andere Krankheit ausweisen, als sie vermutet hatten, und sie müssen entscheiden, ob sie der Wissenschaft oder ihrer Intuition Glauben schenken sollen.
Große Geschäftsleute studieren eine Grafik nach der anderen, kaufen oder verkaufen aber am Ende genau gegenläufig zur Markttendenz und werden dadurch noch reicher.
Künstler schreiben Bücher oder Filme, von denen alle sagen »Das wird kein Erfolg, das Thema ist absolut nicht aktuell«, und am Ende werden sie genau deswegen zu Ikonen der Popkultur.
Religiöse Führer appellieren an Angst und Schuldgefühle statt an Liebe, von der man annehmen könnte, dass sie für alle das Wichtigste auf der Welt ist, und ihre Kirchen erhalten großen Zustrom.
Sie alle widersprechen mit ihrem Verhalten den gängigen Regeln. Aber eine Gruppe bildet eine Ausnahme: die Politiker. Diese möchten allen gefallen und folgen dem Handbuch des korrekten Verhaltens. Am Ende müssen sie zurücktreten, sich entschuldigen, dementieren.
Morris öffnet auf seinem Bildschirm ein Fenster nach dem anderen. Er folgt dabei keinem Plan, sondern seiner Intuition. Er hat sich bereits mit dem Dow Jones abzulenken versucht, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Er sollte sich jetzt besser auf die Leute konzentrieren, mit denen er einen großen Teil seines Lebens zugebracht hat.
Er schaut sich noch einmal das Video an, auf dem Gary Ridgway, der »Green River Killer«, mit ruhiger Stimme erzählt, wie er 48 Frauen, fast ausnahmslos Prostituierte, getötet hat. Ridgway tat das nicht etwa, weil er die Absolution von seinen Sünden erwartet oder sein Gewissen erleichtern wollte, sondern um der Todesstrafe zu entgehen. Der Mörder hatte ungehindert einen Mord nach dem anderen begangen, ohne überführt werden zu können.
Aber vielleicht hatte er ja die makabre Aufgabe, die er sich gestellt hatte, satt, oder sie langweilte ihn.
Ridgway hatte eine sichere Arbeitsstelle als Lastwagenkarosserie-Lackierer. An seine Opfer kann er sich nur erinnern, indem er sie mit seinen arbeitsfreien Tagen in Verbindung bringt. Zwanzig Jahre lang waren ihm manchmal bis zu fünfzig Detektive auf den Fersen gewesen, und trotzdem hatte er es geschafft, weitere Verbrechen zu begehen, ohne seine Handschrift oder Spuren zu hinterlassen, die ausgewertet werden konnten.
»Er war kein besonders brillanter Mensch, sein Arbeitsverhalten ließ zu wünschen übrig, er war nicht gebildet, aber ein perfekter Mörder«, hatte einer der Detektive zu Protokoll gegeben.
Oder, besser gesagt, er war der geborene Mörder gewesen. Er hatte einen festen Wohnsitz. Sein Fall wurde sogar zeitweilig als unlösbar zu den Akten gelegt.
Dieses Video hat Morris in seinem Leben schon Hunderte Male angesehen. Bei der Lösung anderer Fälle hat es ihn oft inspiriert, aber heute klappt es nicht. Er schließt dieses Fenster, öffnet ein anderes mit dem Brief des Vaters von Jeffrey Dahmer, dem »Milwaukee Monster«, der zwischen 1978 und 1991 für den Mord und die
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