Der Sieger bleibt allein (German Edition)
weil das Projektil abgelenkt wird, aber ideal für aufgesetzte Schüsse.
Igor wird allmählich ungeduldig. Hat das Paar die Einladung womöglich abgesagt? Oder ist die Suite – und jetzt fühlt er sich für den Bruchteil einer Sekunde aus der Bahn geworfen – unter deren Tür er den Briefumschlag durchgeschoben hat, etwa diejenige, in der die beiden untergebracht sind?
Nein, das kann nicht sein. Das wäre ein zu großes Pech. Er denkt an die Familien derer, die gestorben sind. Wenn es weiterhin sein einziges Ziel wäre, die Frau zurückzuerobern, die ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hat, der sie nicht verdient, dann wäre die ganze Arbeit vergebens gewesen.
Seine Kaltblütigkeit verlässt ihn. Kann das der Grund sein, weshalb Ewa trotz der vielen sms , die er ihr geschickt hat, nicht versucht hat, mit ihm Kontakt aufzunehmen? Zweimal hat er bereits ihren gemeinsamen Freund angerufen und erfahren, dass auch er nichts von Ewa gehört hatte.
Der Zweifel wird allmählich zur Gewissheit: Ja, die beiden sind jetzt tot. Das erklärt den unvermittelten Aufbruch des »Assistenten« der Schauspielerin. Und die vollkommene Niedergeschlagenheit des 19-jährigen Mädchens, das gebucht wurde, um an der Seite des großen Modedesigners aufzutreten.
Möglicherweise straft Gott Igor dafür, dass er eine Frau, die es nicht verdiente, so sehr geliebt hat? Es war seine Exfrau, die seine Hände dazu benutzt hat, ein junges Mädchen zu erwürgen, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte und zum Beispiel ein neues Mittel gegen Krebs hätte entdecken oder die Menschheit dazu bringen können, schonender mit dem Planeten umzugehen! Auch wenn Ewa nichts von den Morden weiß, so hat sie ihn doch dazu angestiftet, die Gifte zu benutzen; Igor war sich sicher, absolut sicher gewesen, dass er nur eine einfache Welt zu zerstören brauchte, damit die Botschaft an ihr Ziel gelangte. Er hatte sein kleines Arsenal nur mitgenommen, weil er davon ausging, dass alles nur ein Spiel war; dass Ewa an seinem ersten Abend im Martinez in die Bar kommen und vor der Party einen Champagner trinken, Igors Gegenwart bemerken und sofort begreifen würde, dass er ihr all das Böse und die Zerstörung verzieh, die sie ausgelöst hatte. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen weiß er, dass Menschen, die lange miteinander gelebt haben, die Gegenwart des anderen spüren, selbst wenn sie nicht wissen, dass er im Raum ist.
Das war nicht geschehen. Ewas Gleichgültigkeit am Vorabend – oder vielleicht ihre Schuldgefühle ihm gegenüber – hatten verhindert, dass sie den Mann entdeckte, der sich hinter einer Säule versteckte, aber in der Bar russische Wirtschaftszeitschriften ausgelegt hatte, Hinweis genug für jemanden, der ständig auf der Suche nach seinem verlorenen Partner ist. Jemand, der liebt, hofft überall, auf seine Liebe zu treffen: auf der Straße, auf einer Party, im Theater; doch Ewa hat offensichtlich ihre Liebe zu Igor gegen Ruhm und Glamour eingetauscht.
Igor beruhigt sich wieder. Ewa ist das wirkungsvollste Gift auf der ganzen Welt, und wenn die Blausäure sie getötet hätte, wäre das noch ein viel zu gnädiger Tod gewesen, denn eigentlich verdient sie Schlimmeres.
Die beiden jungen Frauen unterhalten sich weiter. Igor entfernt sich, er darf sich nicht von der panischen Angst beherrschen lassen, möglicherweise selbst sein eigenes Werk zerstört zu haben. Er will kurz allein sein, denn er muss einen kühlen Kopf bewahren, jederzeit auf jede Veränderung schnell reagieren können.
Er tritt zu einer Gruppe, die sich lebhaft über die Methoden unterhält, sich das Rauchen abzugewöhnen.
Ja, das ist eines der Lieblingsthemen in dieser Welt: den Freunden zeigen, dass man imstande ist, Willenskraft aufzubringen, den inneren Feind zu besiegen. Um sich abzulenken, zündet Igor sich eine Zigarette an und weiß, dass er damit provoziert.
»Das schadet der Gesundheit«, meint eine mit Diamanten behängte, ausgemergelte Frau mit einem Glas Orangensaft in der Hand.
»Leben schadet der Gesundheit«, entgegnet er. »Früher oder später endet es immer mit dem Tod.«
Die Männer lachen. Die Frauen beäugen den Neuankömmling interessiert. Doch in diesem Augenblick fangen die Fotografen im etwa zwanzig Meter entfernten »Korridor« wieder an zu schreien.
»Hamid! Hamid!«
Auch aus der Ferne, obwohl die im Garten herumspazierenden Menschen ihm die Sicht etwas verstellen, sieht er, wie der Modeschöpfer mit seiner Begleiterin hereinkommt –
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