Der Sieger bleibt allein (German Edition)
um seinem Land zu dienen, um Außenseiter wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Und er hat es gemacht wie Christus, sein einziges Vorbild im Leben, der die andere Wange hingehalten hatte, als er geschlagen wurde, aber auch die Peitsche benutzt hatte, um zu züchtigen.
Er bekreuzigt sich in der Hoffnung, dass die Versuchung dann von ihm ablassen würde. Er zwingt sich, an die Aufzeichnungen zu denken, an das, was Ewa darauf gesprochen hatte: nämlich, dass sie manchmal an der Seite ihres neuen Partners unglücklich sei, aber trotzdem nie in ihr früheres Leben mit ihrem »geistig aus dem Gleichgewicht geratenen« Exmann zurückkehren würde.
So ein Schwachsinn! Offensichtlich wurde sie in ihrem neuen Ambiente einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie schien in schlechte Gesellschaft geraten zu sein. Igor war sicher, dass sie log, als sie ihrer russischen Freundin gesagt hatte, sie habe nur wieder geheiratet, um nicht allein zu bleiben.
In ihrer Jugend, so erzählte sie ihrer Landsmännin weiter, habe sie sich ausgegrenzt gefühlt und sich nie zugetraut, sie selbst zu sein. Immer hatte sie geglaubt, sich für dieselben Dinge interessieren zu müssen wie ihre Freundinnen, ihre Spiele spielen, auf öden Partys herumhängen und sich einen gutaussehenden Mann angeln zu müssen, der ihr ein Haus, Kinder und eheliches Glück, kurz: Sicherheit schenkte. ›Eine einzige Lüge‹, befand sie im Nachhinein.
Sie hatte immer von Abenteuern und Neuem geträumt. Hätte sie als Jugendliche einen Beruf wählen dürfen, so wäre sie Künstlerin geworden. Als Kind hatte sie aus der Parteizeitung immer die Fotos ausgeschnitten, die düsteren Gestalten farbig ausgemalt und zu Collagen gestaltet. Die Kleidchen für Ewas Puppen nähte ihre Mutter selbst, und ihre Tochter liebte sie dafür und träumte davon, eines Tages auch Kleider zu schneidern.
In der alten Sowjetunion gab es keine Mode. Das entdeckten die Russen erst nach dem Fall der Berliner Mauer, als ausländische Zeitschriften das Land überschwemmten. Ewa, die damals ein Teenager gewesen war, hatte diese Zeitschriften verschlungen und angefangen, Kleider zu zeichnen. Irgendwann hatte sie dann ihrer Familie gesagt, ihr Traum sei, Mode zu entwerfen.
Ihre Eltern schrieben sie jedoch sofort nach ihrem Schulabschluss zum Jurastudium ein. Sie begrüßten die neue Freiheit, fanden aber gleichzeitig, dass bestimmte kapitalistische Vorstellungen das Land unterminierten, das Volk von der wahren Kunst abbrachten. Statt Tolstoi und Puschkin wurden nun Spionageromane gelesen, das klassische Ballett von modernen Abartigkeiten zersetzt. Ihre einzige Tochter sollte, so gut es ging, den Einflüssen dieses Sittenverfalls entzogen werden, der mit Coca-Cola und Luxuswagen Einzug gehalten hatte.
An der Universität traf Ewa dann einen gutaussehenden, ehrgeizigen Jungen, der genauso dachte wie sie: Das alte Regime ist ein für alle Mal abgeschafft. Es wird nicht wiederkommen. Jetzt ist es an der Zeit, ein neues Leben anzufangen.
Ewa fand den Jungen großartig. Sie fingen an, zusammen auszugehen. Sie fand ihn intelligent und war sicher, dass er es im Leben weit bringen würde. Er verstand sie. Selbstverständlich hatte er im Afghanistankrieg gekämpft und war auch verwundet worden, aber nicht schlimm. Er klagte nie über die Vergangenheit, und in den vielen Jahren ihres Zusammenlebens zeigte er nie Anzeichen seelischer Unausgeglichenheit oder eines Traumas.
Eines Tages hatte er ihr einen Strauß Rosen geschenkt und verkündet, er werde die Universität verlassen und sein eigenes Unternehmen gründen. Dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte ja gesagt, obwohl sie für ihn nur Bewunderung und kameradschaftliche Gefühle empfand. Die Liebe, so dachte sie, würde mit der Zeit und mit dem Zusammenleben schon noch kommen. Außerdem war dieser Junge der Einzige, der sie wirklich verstand und geistig anregte. Wenn sie diese Chance nicht nutzte – wer weiß, vielleicht würde nie wieder jemand kommen, der sie so akzeptierte, wie sie war.
Sie heirateten ohne große Feierlichkeiten und ohne die Unterstützung der Familie. Der junge Mann lieh Geld von Leuten, die Ewa für gefährlich hielt, aber sie konnte nichts dagegen tun. Ganz allmählich begann das Unternehmen, das er gegründet hatte, zu wachsen. Nachdem sie vier Jahre zusammen waren, stellte sie ihre erste Forderung: Er solle seine Gläubiger auszahlen, obwohl oder gerade weil diese verräterisch wenig daran interessiert waren,
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