Der silberne Sinn
Knabe mit dem Namen »Brennendes Silber« in den Katakomben verbracht. Als dann eine Zeit des Friedens einkehrte, zog er und mit ihm der Großteil seiner Sippe zu den Brüdern, die schon seit langem im Reich der Inka, weit im Süden, lebten. Dort waren die Silbernen einst durch Verrat an Pachacuti Inca Yupanqui ausgeliefert und versklavt worden, aber dessen Nachkommen schienen das Volk nun zu achten. Kurz nach der Vereinigung der armorikanischen Sippen nahm das Unglück jedoch erneut seinen Lauf. Huayna Capac wandelte sich – nachdem er sein Reich zu nie gekannter Größe ausgedehnt hatte – zu einem noch unbarmherzigeren Unterdrücker, als es sein Großvater gewesen war. Dieser, Pachacuti, hatte sich bei aller Machtgier stets als umsichtig erwiesen, weil er das letzte Tabu nie brach, das Allerheiligste der Silbernen nie entweihte…
»Worum handelte es sich dabei?«, fragte Yeremi.
»Um das ›Gedächtnis des Silbernen Volkes‹, das vom Anbeginn der Zeit stammt. Ihm verdanke ich den Titel des Hüters.«
»Bis heute dachte ich, ihr gebt eure Überlieferungen nur mündlich weiter.«
»Das ist nicht ganz falsch. Unser Volk betrachtet es als seine edelste Pflicht, das Wissen unserer Vorväter in die Köpfe einzugraben. Der Hüter bewahrt nur eine Abschrift dieses geistigen Erbes.«
»Die Quipus – sind die Knotenschnüre dieses ›Gedächtnis‹?«
»Sie enthalten einen großen Teil davon, aber die ursprünglichen Aufzeichnungen meiner Ahnen sind in den Wolken versteckt.«
»Du meinst an einem verborgenen Platz, im Allerheiligsten?«
»Ja. Allein die Hüter und ihre Stellvertreter besitzen das vollständige Wissen über den geheimen Hort. Ihn zu finden ist jedem anderen unmöglich, ihn zu betreten tödlich. Zwar wurde das Versteck verraten, doch war anfangs die Achtung vor dem Silbernen Volk zu groß, um ihr Allerheiligstes zu entweihen. Selbst Pachacuti Inca Yupanqui durfte das nicht wagen. Daher traf er eine listige Entscheidung. Ab sofort sollten an gleicher Stelle die Schätze der Inkakönige aufbewahrt werden. Als Hüter diente nun ein kleiner Zirkel von Edlen beider Völker. Sogar als später unter Huayna Capac die Verfolgung der Silbernen erneut einsetzte, tastete man die Bewahrer des Schatzes nicht an, obwohl sie dem Gesetz nach Sklaven waren. Die Übrigen des Silbernen Volkes traf es härter. Sie wurden mit wenigen Ausnahmen aus dem riesigen Reich Tahuantinsuyu in die Hauptstadt Cuzco gebracht, wo sie den dort ansässigen Adligen und Beamten als Lehrer, Erzieher, Baumeister, Heiler oder Himmelskundler dienten.«
Yeremi war fasziniert von Sarafs erstaunlichem Wissen der präkolumbischen Kulturen Amerikas. Seine präzisen Schilderungen klangen glaubhaft. Er kannte die alten Namen wie Tahuantinsuyu, was das »Land der Vier Viertel« bedeutete und für das Reich der Inka stand. In Yeremis Stimme schwang Ehrfurcht, als sie fragte: »Und wie ist es dem Knaben Saraf Argyr ergangen?«
»Er wurde von Francisco Pizarro gefangen genommen…«
»Wie bitte? Du meinst doch nicht etwa den Francisco Pizarro, der 1524 seine erste Expedition in das Inkareich unternahm?«
Saraf sprach von niemand anderem. Als Übersetzer habe der Halbwüchsige die »weißen Götter« – so nannten die Inka Pizarro und seine Horde – auf ihren Beutezügen begleitet. Schließlich kam er sogar nach Spanien. Hier lernte der Knabe das Christentum kennen, konnte bald sogar die Bibel lesen. Die Zehn Gebote hatten es ihm besonders angetan. So gelangten sie in das Gedächtnis des Silbernen Volkes. Bald kehrte Pizarro mit dem Titel eines Gouverneurs und dem großzügigsten Freibrief, der – so wurde am Hof gemunkelt – je einem Konquistador ausgestellt worden war, nach Amerika zurück. Der Knabe blieb an seiner Seite, bis es eines Tages zu einem blutigen Gemetzel in der Ebene von Cajamarca kam. Vom Blutrausch der Christen in Panik versetzt, von ihrer Heuchelei abgestoßen, floh Saraf Argyr nach Süden. Hier wurde er später zum Hüter seines Volkes ernannt.
»Und damit begründete er die Dynastie, die bis zu dir, dem letzten Saraf Argyr, reicht«, flüsterte Yeremi mit einem schwachen Nicken.
Die Antwort des Hüters bestand aus einem geheimnisvollen Blick.
Yeremi überspielte die ihr unangenehme Stille mit einem Lächeln. »Jetzt verstehe ich einiges besser. Danke für deine Offenheit, Saraf.«
»Ich habe dir meines Volkes Geschichte erzählt, um sie zu deiner eigenen zu machen. Wie wirst du dich entscheiden?«
Yeremi war innerlich
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