Der silberne Sinn
das Ende der Stiege.
»Hast dir wohl ein Souvenir eingepackt?«, empfing sie dort ihren Stellvertreter.
»Du scherzt wieder. Das ist schön«, erwiderte Leary lakonisch.
»Was befindet sich in dieser Kiste, Al?« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf das Corpus Delicti.
»Unterlagen.«
Yeremi glaubte ihm nicht. Er verheimlichte ihr etwas. Sie entschied sich für einen Schuss ins Blaue. »Saraf erzählte mir, sein Volk bewahre an einem geheimen Ort heilige Schriften auf, Quipus mit uralten Überlieferungen. Diese Kiste enthält nicht zufällig diese Knotenschnurbibliothek?«
Leary wurde blass. Sein Gesicht verriet bereits mehr als jedes offene Geständnis. Dann reichte er sogar eine verbale Erklärung nach. »Also gut, ich habe die Quipus gerettet, ehe die Daisy Cutter sie in Asche verwandeln konnten.«
»Das ist fein, Al Leary. Und warum erfahre ich erst jetzt davon?«
»Du warst in Quarantäne.«
»Eine miesere Ausrede fällt dir wohl nicht ein?«
»Es ging alles drunter und drüber, da habe ich es schlichtweg vergessen.«
»Bis gerade eben. Ich werde dich vor eine wissenschaftliche Untersuchungskommission schleppen, Al, und dann musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.«
»Ach!«, ging Leary zum Gegenangriff über. »Dann wird das Gremium bestimmt auch die Frage interessieren, warum du von den heiligen Schriften wusstest und mir nichts davon verraten hast. Vielleicht lassen wir besser diese Drohgebärden, Jerry. Sobald wir in San Francisco gelandet sind, händige ich die Knotenschnüre sowieso Professor McFarell aus. Bist du jetzt zufrieden?«
Am liebsten wäre Yeremi ihm ins Gesicht gesprungen. Doch ehe sie aufbrausen konnte, fiel ihr wieder jener Teil des erst wenige Stunden alten Gespräches mit Saraf Argyr ein, in dem es um Ausgeglichenheit und ein passendes Milieu zum Gedeihen von Einfühlung gegangen war.
Und plötzlich wurde sie ruhiger. Learys Manöver erschien ihr mit einem Mal lächerlich durchsichtig. Sein Geständnis bedeutete nichts anderes, als dass er sie ein weiteres Mal hatte ausbooten wollen. Vielleicht steckte auch mehr dahinter. Das würde sich zeigen.
Sie lächelte mild und sagte: »Wir sprechen uns noch, Al.« Leary hatte ihre verhaltene Reaktion offenbar nicht erwartet. Mit verstörtem Blick verfolgte er ihren Abstieg zum Lagerplatz.
Viele Zelte waren bereits abgebrochen, andere würden erst am nächsten Tag zerlegt werden. Die Evakuierung der Expedition hatte Priorität, wie Colonel Hoogeven es ausdrückte.
Percey Lytton verstaute gerade die empfindliche Optik eines mit dem Computer koppelbaren Mikroskops, als Yeremi ihn nach dem letzten Stand der mikrobiologischen Untersuchungen fragte. Der Arzt brummte etwas, was sie zuerst nicht verstand.
»Ist Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen, Percey?«
»Das kann man wohl sagen!«, erwiderte er. »Ich schätze, wir werden nie herausfinden, woher dieser ominöse Mikrobenstamm gekommen ist.«
Sie erstarrte. »Was soll das heißen?«
»Sämtliche Blutproben und die von uns angelegten Kulturen sind verschwunden.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Doch. Gestern waren sie noch da, heute früh sind sie weg.«
Fassungslos blickte sie in Lyttons grimmiges Gesicht. Wie sollten sie jemals herausfinden, ob ein genmanipulierter Bakterienstamm das Silberne Volk getötet hatte, wenn es keine Proben mehr gab? Nur stockend erlangte sie ihre Sprache zurück.
»Und… wie erklären Sie sich das?«
»Ist das so schwer zu erraten?«
»Jemand muss sie gestohlen haben.«
»Bingo!«
»Hoogeven?«
»Das war auch mein erster Gedanke. Der Colonel streitet alles ab. Wie ich mich erdreisten könne, ihm dergleichen zu unterstellen, hat er gewettert.«
»Und Al?«
»Leary ist völlig perplex. Sie kennen ihn ja.«
Yeremi fragte sich, wie dieser neuerliche Vorfall in das Gesamtbild passte, von dem Sarafs seltsame Beobachtungen nur ein kleiner, wenn auch beunruhigender Teil waren. »Denken Sie, jemand könnte das Silberne Volk mit Absicht ausgerottet haben, Percey?«
Der Arzt zog eine Grimasse. »Ich halte nicht viel von James-Bond-Geschichten, Yeremi. Nehmen wir einmal an, die Killermikroben sind wirklich in einem Labor gezüchtet worden. Ist die Annahme da nicht viel plausibler, jemand habe fahrlässig gehandelt und sie versehentlich freigesetzt? Solche Pannen passieren häufiger, als man denkt.«
»Sie haben Recht. Andererseits…« Nachdenklich saugte Yeremi ihre Unterlippe in den Mund. »Stellen Sie sich vor – auch das nur rein
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