Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
kenne die Geschichte deines Volkes nur bruchstückhaft. Vor allem über die letzten fünfhundert Jahre hast du und haben deine Brüder mehr geschwiegen als gesprochen. In eurer Halle des Gebets befinden sich die Zehn Gebote aus der Bibel. Wie ist das Silberne Volk an diese Worte gekommen? Stammen sie von den Konquistadoren, ebenso wie dein antiquiertes Spanisch? Ich vermute, deine Vorfahren haben früher in Mexiko gelebt. Da gibt es drei Hohlpyramiden, nach den Gürtelsternen des Orion gruppiert, genauso wie hier. Und du hast einmal Ahuehuete erwähnt, den Baum von Tule oder einen seiner Artgenossen. Die wachsen ebenfalls in Mexiko. Wenn ich die Geschichte des Silbernen Volkes besser verstehen würde, könnte ich vielleicht erkennen, warum ihm dieses grausame Schicksal widerfahren ist. Allein mit Vermutungen werde ich nicht weit kommen.«
    Noch immer wirkte Saraf wie versteinert. Seine hellen Augen schienen Yeremi durchleuchten zu wollen, um nach irgendeinem Makel zu suchen.
    Endlich sagte er: »Also gut. Ich werde dir einige Dinge erzählen, die niemand sonst in deiner Gruppe weiß.«
    Yeremi steckte kurz den Kopf aus dem Zelt. Im Lager wurde immer noch gefeiert. Dann drehte sie das Licht auf Sparflamme herunter, um möglichst keine verräterischen Schatten an die Außenwand zu werfen, und wandte sich wieder dem Silbermann zu. »Jetzt bin ich bereit, dir zuzuhören.«
    Sarafs Rechte wanderte zu der Perlenkette an seinem Hals. Einen Moment lang ließ er die Korallen durch seine Finger gleiten – er schien in Gedanken durch die Zeit zu reisen –, bis er den rechten Anfang gefunden hatte.
    »Das Silberne Volk«, sagte er mit ruhiger Stimme, »kam vor langer Zeit aus Armorika, dem Land ›am Rande des Meeres‹. Es wurde selten wirklich geliebt, obwohl es doch gekommen war, um den Völkern des Westens Wissen und Weisheit zu bringen. Anfangs wurden die Armorikaner noch als Ratgeber geduldet, aber dann begann man sie zu verfolgen. Ein Teil meiner Vorfahren floh schließlich unter die Erde, erweiterte die natürlichen Höhlen und uralten Kultstätten unter der Silberstadt…«
    »Sprichst du etwa von Aguascalientes? Dort hatten die Spanier Silber abgebaut. Es ist der Ort mit den unterirdischen Hohlpyramiden, die ich eben erwähnt habe.«
    »Dann muss es sich um die Stadt meiner Ahnen handeln. Darf ich fortfahren?«
    »Entschuldige die Unterbrechung.«
    »Tief unter der Silberstadt, jenseits der Sonne, wurde eines Tages ein Knabe geboren, dessen Leben enger mit dem Geschick seines Volkes verknüpft sein sollte als das irgendeines anderen. Als er den von Wehen geschüttelten Schoß verließ, brach sich das Licht der Feuerschalen in einer Silberader, die an dieser Stelle den Fels durchzog. Die glückliche Mutter war von dem Sternenfunkeln ganz hingerissen und nannte den Knaben Saraf Argyr, was in der alten Sprache ›trennendes Silber‹ bedeutet…«
    »Er hieß genauso wie du?«, entfuhr es Yeremi erstaunt.
    Der Silbermann lächelte. Seine Antwort bestand in einem Nicken.
    Seltsam, dachte sie. Wieso war der von einer stolzen Mutter erdachte Name bis in die Gegenwart erhalten geblieben? Vielleicht standen die Worte »Saraf Argyr« für einen Titel oder einen Beinamen, so wie die römischen Cäsaren den ihren von einem Mann namens Gajus Julius herleiteten. Im Deutschen kannte man den »Kaiser«, in Russland den »Zaren«, sprachliche Relikte, in denen der Name von Julius Caesar fortlebte. Yeremi entschuldigte sich einmal mehr für die Unterbrechung, und Saraf berichtete weiter über das Leben des kleinen Hoffnungsträgers.
    Als dieser noch ein Säugling war, habe seine Mutter bereits die besondere Stärke seines Fühlsinnes bemerkt. Manchmal verspürte sie ein unbändiges Hungergefühl, aber sobald sie das Kind zu stillen begann, wurde auch sie wieder satt. Diese Beobachtungen beunruhigten sie, denn seit langem hatte niemand von ihnen über einen derart mächtigen Fühlsinn verfügt. Als sie der Sippenältesten von ihren Beobachtungen erzählte, erklärte diese, dem Kind sei ein besonderes Schicksal beschieden. Eines Tages werde es das Silberne Volk zu einem »neuen Anfang jenseits des Horizonts führen«.
    Diesmal verkniff sich Yeremi eine störende Bemerkung. Vor wenigen Minuten erst hatte Saraf Ähnliches über seine eigene Bestimmung gesagt. Also doch die Bürde eines Amtes, das von Generation zu Generation, von Saraf Argyr zu Saraf Argyr weitergereicht wurde?
    Die ersten Lebensjahre, fuhr Saraf zügig fort, habe der

Weitere Kostenlose Bücher