Der silberne Sinn
groß. »Natürlich! Der schwarze Jaguar hat dich gerettet.«
Saraf blickte sie nur verständnislos an.
»Percey, unser Heiler, hat dir ein Antibiotikum verabreicht…«
»Was ist das?«
»Ein Mittel gegen Infektionen…«
»Was sind Infektionen!«
»Nun…« Wie sollte sie ihm die Erkenntnisse der modernen Mikrobiologie in drei Sätzen erklären? »Viele Krankheiten werden von winzigen Schädlingen ausgelöst, die zu klein sind, um sie mit dem bloßen Auge zu erkennen. Einige davon nennt man Bakterien, Bazillen oder Mikroben. Als Gegenmittel benutzen unsere Heilkundigen Antibiotika. Nachdem die Raubkatze dich so schwer verletzt hatte, gab Percey Lytton dir vorsorglich diese Medizin. Sie muss dich vor der tödlichen Seuche geschützt haben.«
»Fürwahr ein mächtiger Gegenzauber!«
»Diese Medizin hat mit Magie nichts zu tun, Saraf. Sie konnte nicht einmal dein Volk retten. Wie hat sich die Krankheit überhaupt bemerkbar gemacht?«
Ein schmerzvoller Ausdruck zog wie eine dunkle Wolke über Sarafs Gesicht. »Das Sterben kam nicht sogleich. Nachdem sie unsere Höhlen verlassen hatten, rief ich den Großen Rat zusammen, um von meinen Beobachtungen zu berichten. Stunden vergingen, bis die Ersten meines Volkes über Gliederschmerzen klagten, bald zu schwitzen begannen und von heftigem Schütteln ergriffen wurden. Unsere Heiler verteilten Tränke und Pulver, aber kein Mittel half. Bis zum Morgen breitete sich das Übel mit rasender Geschwindigkeit aus. Ich schickte Adma zur Knochenpforte, damit sie dich um Hilfe bittet, während ich selbst einen geheimen Ausgang benutzte, um der Spur der gelben Geister zu folgen.«
»Es gibt mehr als nur einen Eingang in die Höhlen?«
»Für wie töricht haltet ihr uns eigentlich?«
»Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Konntest du die gelben Geister im Wald einholen?«
»Beinahe.«
Yeremis Augenbrauen hoben sich.
»Ihre Prozession strebte dem Gipfel unseres Berges entgegen und bewegte sich zugleich halb um ihn herum. Fast hatte ich sie erreicht, als ein gleißendes Licht mit großem Getöse vom Himmel herniederfuhr und sie alle mit sich nahm.«
Yeremi starrte wie versteinert auf Sarafs Gesicht. Ihre wirren Gedanken wollten sich nur widerstrebend in irgendeine Ordnung fügen. Fliegende Geister mit Zauberstäben – was sollte sie davon halten? »Und…« Sie benetzte ihre trockenen Lippen mit der Zunge. »Und was ist in den Tagen danach geschehen, einmal abgesehen davon, dass du mir beim Baden zugesehen hast?«
»Ich versuchte, den Schuldigen zu finden. Tagsüber schlief ich in einer Höhle, und bei Einbruch der Dämmerung habe ich mich an euren Wachen vorbei ins Lager geschlichen, um meinen Silbernen Sinn umherwandern zu lassen.«
»Heißt das, du bist in unsere Gedanken eingedrungen?«
»Nur in die Gefühle.«
»Du allein! Sind nicht immer mehrere Silberne erforderlich, um…?«
»Ich bin der Einzige von uns, in dem die Gabe so mächtig ist.«
Sämtliche Haare auf Yeremis Haut richteten sich auf. »Was… Was hast du herausgefunden?«
»Nichts«, erwiderte Saraf niedergedrückt. »Ihr habt die gleichen Empfindungen wie wir, aber die Melodie ist eine andere.«
»Äh…«
»Das bedeutet, eure Gefühle sind anders verteilt. Ihr freut euch über Begebnisse, die bei uns nur Abscheu wecken, und verabscheut Dinge, die uns Freude bereiten.«
»Dafür haben wir wiederum verschiedene Namen: Manch einer nennt es ›Zeitenwandel‹, mein Großvater hingegen ›Sittenverfall‹.«
»Zumindest ist es verwirrend, Yeremi Bellman. Ihr kommt aus einer anderen Welt, und ich kann vieles nicht verstehen, was für euch selbstverständlich ist.«
Allmählich schwante Yeremi, weshalb Saraf zu ihr gekommen war. »Du möchtest, dass ich dir helfe.«
»Es ist keine Frage des Möchtens oder Wollens. Vor vielen Jahren wurde ich mit der Aufgabe betraut, mein Volk eines Tages hinter den Horizont zu einem neuen Anfang zu führen. Als ich dich an meinem Krankenlager zum ersten Mal sah, wusste ich, dieser Tag würde nicht mehr fern sein.« Saraf hielt für einen Moment inne, und seine Augen schienen Yeremi regelrecht zu durchleuchten. »Anscheinend hat sich die Weissagung nun erfüllt, wenn auch anders, als ich dachte.«
»Bist du etwa hier, um…?« Yeremi erstarrte.
»An dir Rache zu nehmen?« Saraf lächelte schwach und schüttelte zugleich sein müdes Haupt. »Nein, du trägst keine Schuld am Geschick meines Volkes.«
Yeremi entspannte sich wieder. Sie hätte gerne gewusst, warum
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