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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ihr der Silbermann so uneingeschränkt vertraute. Konnte er ihre Aufrichtigkeit etwa fühlen? Einmal mehr bekam sie eine Gänsehaut. Auf keinen Fall wollte sie ihre Empfindungen freiwillig preisgeben. Zaghaft fragte sie: »Aber… warum hältst du ausgerechnet mich für etwas Besonderes?«
    Saraf wirkte überrascht. »Weil du es bist. Wusstest du das nicht?«
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«
    Er nickte traurig. »Weil deine Vergangenheit die Gefühle des Jetzt beeinflusst. Ich habe dich lange beobachtet, Yeremi Bellman, und konnte den Schmerz in dir fühlen. Warum, denkst du, fällt es dir so schwer, die Absichten anderer Menschen einzuschätzen?«
    »Das weiß ich doch nicht! Vermutlich weil ich ihnen nicht traue. Wenn mir jemand zu nahe kommt, kriege ich Angst, die Gefühle kochen hoch, mir… Ach, ich kann es nicht richtig beschreiben.«
    »Ich glaube, ich verstehe dich ganz gut. Welche Eigenschaft würde dir deiner Meinung nach am ehesten helfen, gegen diese kochenden Gefühle anzukämpfen?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht ein wenig mehr Ausgeglichenheit?«
    Saraf nickte und lächelte dabei wie ein mit seinem Schüler zufriedener Lehrer. »Das klingt vernünftig. Der Silberne Sinn – du magst ihn Einfühlung nennen – gedeiht in einem überhitzten oder unterkühlten Umfeld nicht besonders gut.«
    »Willst du damit etwa andeuten, ich besäße so etwas wie den Fühlsinn?« Yeremi schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Saraf, darauf falle ich nicht herein. Was ist der wirkliche Grund, weshalb du gerade mich zu deiner Fee auserkoren hast?«
    Der Silbermann hielt Yeremis weidwundem Blick gleichmütig stand. Als sie schon glaubte, ihm ausweichen zu müssen, sagte er ruhig: »Alle anderen in deiner Gruppe sind in diesen Wald eingedrungen, um sich etwas zu nehmen, aber du bist die Einzige, die diesen Ort aufsuchte, um etwas zu bringen.«
    Yeremi hatte mit einem Mal das Gefühl, ihr T-Shirt schnüre ihr die Luft ab. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie barsch.
    Saraf lächelte. »Du hast es mir gesagt.«
    Sie machte eine wegwerfende Geste. »Gar nichts habe ich. Du hast dich in meinen Kopf geschlichen, in meine Gefühle. Lass das bleiben, Saraf!«
    Der Silbermann schüttelte ruhig den Kopf. »Ich denke, du glaubst nicht an den Silbernen Sinn, die Gabe der Gefühlsspieler. Wenn hier jemand nach den Gefühlen des anderen geforscht hat, dann bist du das gewesen.«
    Yeremi stieß einen leisen Schrei aus. »Wie oft muss ich dir das noch sagen? Ich bin kein empathischer Telepath!«
    Saraf erwiderte ihren zornsprühenden Blick. »Das habe ich nie behauptet.«
    »Doch! Hast du. Empathie, Einfühlung – das sind die verkümmerten Reste von dem, was du als Silbernen Sinn bezeichnest.« Sie warf ihren Kopf in den Nacken. »Ich fasse es nicht! Wirft mir vor, in seinen Gefühlen herumzustochern, als wäre ich eine von ihnen.«
    Saraf wartete mit schräg gelegtem Kopf und seltsam wissendem Lächeln ab, bis sich Yeremis emotionales Gewitter verzogen hatte. Anschließend sagte er: »Deine Wissenschaften sind mir ebenso fremd wie die Sprache, hinter der sich eure Gelehrten verschanzen. Aber ich weiß, was ich fühle, Yeremi Bellman. Deshalb kam ich zu dir, und darum frage ich dich jetzt: Wirst du für mich den Herren der gelben Geister finden?«
    Yeremi war fassungslos. Er hatte sie mit seinem messerscharfen Verstand oder dem Silbernen Sinn umzingelt, sie in die Enge getrieben, sie ertappt. Und jetzt stellte er auch noch diese Frage! Sie war in den Dschungel gereist, um ihr Kindheitstrauma loszuwerden, also tatsächlich, wie Saraf sich ausdrückte, um etwas zu »bringen«. Entgegen ihrem Willen war sie fasziniert von diesem – fast immer – bewundernswert ausgeglichenen Menschen. Wenn sie nur die Gewissheit hätte, die Kontrolle über ihre eigenen Gefühle und Gedanken zu besitzen…!
    Einmal mehr wurde sie sich Sarafs forschenden Blickes bewusst. Er wartete auf eine Antwort. Sollte sie ihm helfen? Konnte sie es überhaupt? Nach einem tiefen Atemzug erwiderte sie: »Du verlangst viel von mir. Ehe ich auf deine Frage eingehe, musst du mir ein Unterpfand deines Vertrauens geben.«
    Er sah sie verständnislos an.
    »Ihr seid nicht immer sehr offen zu uns gewesen«, erklärte Yeremi, »weshalb ich über einige Dinge Klarheit haben möchte.«
    Sarafs Gesicht zeigte keine Regung. »Was möchtest du von mir wissen?«
    »Du sagst, eure Azofa, die Knotenschnüre, enthielten uralte Überlieferungen, aber ich

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