Der silberne Sinn
anonyme Anrufer kam ihr wieder in den Sinn. Schnell lief sie zum Schalter und knipste das Licht aus. Sie kehrte zum Fenster zurück und spähte durch einen der schmalen Schlitze hinaus.
Der Schatten stand immer noch da. Es musste sich um einen großen Mann handeln. Seine Augen waren auf das Meer gerichtet, zumindest glaubte Yeremi das zu erkennen. Er schien also kein großes Interesse am Strandhaus zu haben…
Plötzlich drehte der Schemen sich um. Sein Gesicht schimmerte silbrig im Licht des fast vollen Mondes. Es blickte direkt zu ihr herauf.
Saraf! Der Gedanke tauchte wie eine grelle Markierungsboje aus den trüben Tiefen ihres Unterbewusstseins auf. Woher diese Eingebung kam…? Vielleicht war es die Art gewesen, wie er sich bewegt hatte. Yeremi konnte den Silbermann nicht wirklich erkannt haben, doch sie glaubte den Blick seiner Augen wie ein warmes Licht auf ihrem Gesicht zu spüren.
Aufgebracht lief sie zur Tür, die auf die Terrasse und den etwa sechs Meter tiefer liegenden Strand hinausführte. Mit weit ausholenden Schritten stapfte sie auf Saraf zu. Er erwartete sie ohne erkennbare Regung.
»Wie kannst du nur!«, zischte sie auf Spanisch.
»Guten Morgen«, erwiderte er auf Englisch. »Wie geht es dir? Hast du gut gefrühstückt?«
»Das ist nicht lustig«, beharrte sie in der Sprache ihrer Mutter, wohl wissend, wessen Floskeln er da repetierte. »Du weißt, wie vorsichtig wir sein müssen.«
Saraf fiel nun wieder ins ihm vertrautere Spanisch zurück. »Sei mir bitte nicht böse, Jerry. Ich bin es zwar gewohnt, mich stundenlang in einer Höhle zu verkriechen, aber wie jedes wilde Geschöpf des Waldes brauche auch ich hin und wieder den Sternenhimmel über mir. Es wird mich schon niemand entdecken, wenn ich mich nachts ab und an aus dem Haus schleiche.«
»Das denkst du, weil dir Molly noch nicht die schwierigen Worte beigebracht hat: ›Nachtsichtgerät‹, ›Restlichtaufheller‹, ›Infrarotkamera‹…«
»Sind das Zauberformeln?«
»So könnte man sagen. Die Hexereien des Fortschritts.«
»Mir wäre bestimmt aufgefallen, wenn uns jemand nachspioniert. Meine Sinne arbeiten gewöhnlich sehr zuverlässig, auch im Dunkeln.«
Yeremi seufzte. »Ich kann dich ja verstehen, Saraf, aber bitte nimm auch Rücksicht auf mich. Wenn man dich entdeckt, bekommen wir beide große Schwierigkeiten. Bleib bitte im Haus!«
Er erwiderte nichts.
»Bitte versprich es mir!«
Von irgendwo brach sich ein Licht in Sarafs Augen. Traurig erwiderte er: »Ich kann dir mein Wort nicht geben, solange ich bezweifle, es auch halten zu können.«
Als Yeremi etwa drei Stunden später in die Auffahrt von Bellman’s Paradise einbog, hatte sie Sarafs ernüchternde Antwort zwar noch nicht verdaut, aber im Geiste beiseite geschoben. Im weiten Garten seines Vertrauens gab es noch immer einen kleinen Pavillon des Schweigens, in dem er etwas vor ihr verbarg.
Der Geländewagen hielt direkt vor dem Eingang des Landhauses. Sie hatte Carl über das Autotelefon von ihrer Absicht unterrichtet, »auf einen Kaffee hereinzuschauen«, bevor sie weiter nach Berkeley fuhr. Die Luft war noch empfindlich frisch an diesem Morgen, weshalb sich die beiden für ihre Unterhaltung in den großen Wintergarten zurückzogen, der durch seine üppige Bepflanzung allerdings eher wie ein Gewächshaus erschien. Großvater und Enkelin nahmen in geflochtenen Möbeln Platz, die in dem wuchernden Grün einen Hauch von Karibik verbreiteten. Fredrika versorgte sie mit heißen Getränken. Sie kannte die gelegentliche Heimlichtuerei der beiden und zog sich verständnisvoll zurück.
»Entschuldige, wenn ich hier so hereinschneie, Opa Carl.«
Er lachte. »Als wenn mich das jemals gestört hätte! Im Übrigen bin ich schon seit fünf Uhr wach. Im Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf.«
Sie hob die hauchdünne Porzellantasse dicht an den Mund und atmete genüsslich das Aroma des Kaffees ein. Zum Trinken war er noch zu heiß. »Gibt es Neues über Jefferson H. Flatstone und seine Stheno Industries?«
»Ich habe Ed Edmundson darauf angesetzt, einen alten Haudegen, der früher zum ONI gehörte, dem Office of Naval Intelligence. Er ist über hundert Ecken mit deiner Großmutter verwandt. Ich kann mich auf ihn verlassen. Aus seiner Zeit beim Marinegeheimdienst unterhält er noch viele nützliche Kontakte, und er weiß, wie man diskrete Nachforschungen anstellt.«
Yeremi nickte. Sie erinnerte sich schwach an einen Mann dieses Namens. »Ich wusste, du
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