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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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lüften, der ihr zuvor nur aus der griechischen Mythologie bekannt war.
    Das Medusa-Projekt wurde von Adolf Hitler persönlich ins Leben gerufen, um Methoden zur Manipulation von Menschen zu entwickeln. Hanussen behauptete von sich selbst, er habe dem Führer das »Handwerkszeug hierzu geliefert«. Doch Medusa verfolgte ein weit höher gestecktes Ziel, als die Massen durch flammende Reden zu begeistern. Durch das Projekt sollte die Idee von der Herrenrasse verwirklicht werden. Die Nazis wollten mentale Gewalt über die Emotionen von Einzelpersonen und sogar von ganzen Völkern gewinnen. Im Falle eines Krieges sollten, so lautete eines ihrer Vorhaben, die Gefühle des Feindes zerrüttet werden und dessen Heere, bildlich gesprochen, zu Stein erstarren – gerade so, als hätten die Soldaten in das Angesicht schlangenhaariger Gorgonen wie das der Medusa geblickt. Hanussen gestand in einer Notiz aus dem Jahr 1933, er sei mehr als ein Berater des Programmes gewesen; er habe sich der »Mittäterschaft« schuldig gemacht. Niemand Geringerer als Joseph Goebbels sei mit der verhängnisvollen Bitte um einen »Gefallen« an ihn herangetreten: Den Holländer Marinus van der Lubbe habe er, Hanussen, dafür präpariert, den Deutschen Reichstag in Brand zu stecken. Inzwischen seien ihm Zweifel an seinem Schulterschluss mit den Nationalsozialisten gekommen, und er hoffe, die Suggestion des Holländers werde fehlschlagen. Doch vermutlich komme seine Einsicht zu spät.
    Er sollte Recht behalten. Der Reichstagsbrand war Geschichte. Hitler brauchte ihn, um die Notverordnung des Reichspräsidenten »zum Schutz von Volk und Staat« aus dem Hut zu zaubern. Mit dem lodernden »Frevel am deutschen Volk« rechtfertigte er ein sehr viel größeres und wahrhaft folgenschweres Unrecht: Er setzte die politischen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft und verschaffte sich dadurch freie Bahn für die Verfolgung politischer Gegner. Und Hanussen hatte ihm mit der Manipulation van der Lubbes den Vorwand dazu verschafft.
    Während sie sich durch den Schriftenberg ihres Urgroßvaters wühlte, schwankte Yeremi zwischen Abscheu und Faszination.
    Hatte Hanussen die Zusammenarbeit mit den Nazis wirklich bereut? Oder war seine so genannte Einsicht nichts als Bedauern über eine lebensbedrohliche Situation, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte? Yeremis Meinung tendierte eher in Carls Richtung. Hanussen schien aufgegangen zu sein, wie unhaltbar seine Position als »Prophet der NSDAP« für die Nazis geworden war. Als Mitwisser des fingierten kommunistischen Anschlages auf den Reichstag konnten sie ihn nicht mehr dulden. Doch für ihn schlimmer noch: Er war Jude. Erich Juhn, ehemals Manager des »Eisenkönigs«, hatte sich bei Hanussen als Impresario eingeschlichen und sich nun als Todfeind entpuppt. Durch ihn wurde der Schwindel um Hanussens gefälschte dänische Herkunft aufgedeckt. Die innere Kehrtwende des kläglich gescheiterten Hellsehers, der eigentlich Hermann Steinschneider hieß, dürfte somit, zu diesem Schluss kam Yeremi, wohl eher ein Kind seines Selbsterhaltungstriebes gewesen sein. Als Künstler war er es gewohnt, sich an denjenigen zu verkaufen, der die höchste Gage bot.
    Im Frühjahr 1933 ging es für ihn jedoch ums nackte Überleben. Er misstraute selbst seinen engsten Mitarbeitern wie dem für die Hanussen-Zeitung tätigen Astrologen Doktor W. Baecker. Seinem Sekretär Izmet Aga Dzino – offenbar einer der Wenigen, die er nicht verdächtigte – offenbarte Hanussen in einer undatierten Notiz seine Ängste. Yeremi konnte die Handschrift ihres Urgroßvaters kaum lesen; er musste unter großer nervlicher Anspannung gestanden haben.
     
    Izmet!
    Baecker ist ein Nazispitzel. Ich bin fest davon überzeugt. Nagle ihn fest! Als Detektiv weißt Du, wie ihm auf die Schliche zu kommen ist. Aber nimm Dich vor ihm in acht!
    Jetzt, da der große Wallot-Bau bald in Flammen stehen wird, werde ich jemanden an sein Angebot erinnern müssen. Solltest Du Post aus dem Ausland bekommen, wundere Dich nicht. Du erinnerst Dich noch an Denis Sefton Delmer, den englischen Reporter vom Daily Express? Ich habe ihm auf Deine Vermittlung hin vor zwei Jahren ein längeres Interview gewährt. Sollte ich jäh von der Bildfläche verschwinden, sprich mit Delmer. Alles übrige wickelst Du so ab, wie wir es für diesen Fall besprochen haben.
    Hanussen
     
    Yeremi holte tief Luft. Das war starker Tobak! Sie wechselte zur Tastatur ihres Notebook-Computers und

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