Der silberne Sinn
nutzen, um die während der Expedition angefallenen Daten offiziell aufzuarbeiten und dabei, ohne Verdacht zu wecken, insgeheim den Ursachen des mysteriösen Massensterbens nachzugehen. Berkeley eignete sich für derlei Recherchen ohnehin viel besser. Hier hatte sie Zugriff auf riesige Bibliotheken, exzellente Informationstechnologie und zahlreiche Datenbanken, die dem normalen Internetreisenden verschlossen blieben.
»… Einsatz in Guyana einen prima Job gemacht! Gönnen Sie sich zwischen den Jahren ruhig eine Auszeit«, hörte sie McFarell sagen. Den Anfang seiner kleinen Belobigungsansprache musste sie verpasst haben.
Sie lächelte flüchtig. »Nett, dass Sie mich aufmuntern wollen, Stan, aber die Expedition war ein einziges Desaster. Ehe das Meeting beginnt: Was ist aus den Quipus geworden, die Al Leary außer Landes geschafft hat?«
Yeremi hatte gehofft, ihn mit dieser Frage zu überraschen, aber McFarell lächelte nur. »Sie befinden sich derzeit im Keller unseres Kunstmuseums und werden gründlich untersucht. Die guyanische Regierung hat uns die Knotenschnüre unbefristet zur Restauration und Erforschung ausgeliehen. Mr Sose war ausgesprochen rührig, damit wir die nötigen Genehmigungen rechtzeitig bekommen. Alles Weitere fragen Sie Doktor Leary am besten gleich selbst.«
»Sie…« Yeremi verstummte, weil sie plötzlich einen vertrauten Duft wahrnahm: Cool Water von Zino Davidoff. Rasch drehte sie sich um.
»Hi, Jerry«, sagte Leary und grinste. »Du warst so mit dem Professor im Gespräch vertieft, dass ich euch nicht stören wollte.«
»Bei dem Eau de Toilette wird dir das nie gelingen, Al.«
Mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern grinste er McFarell an. »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was sie daran auszusetzen hat.«
McFarell schien sich bei dem obligatorischen Schlagabtausch der beiden keine Blessuren holen zu wollen. Er deutete mit ausdrucksloser Miene auf die Sitzecke. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Yeremi folgte der Einladung, aber nicht ohne einen Seitenhieb in Learys Richtung. »Neulich hat so ein anonymer Lüstling bei mir angerufen und mir die Ohren voll gestöhnt. Warst du das?«
Leary machte ein betroffenes Gesicht, doch der Professor ließ keine Antwort zu. »Wir sind komplett. Außer uns dreien wird niemand an dieser Besprechung teilnehmen. Ich habe Sie beide mit der festen Absicht zu mir gebeten, einen Waffenstillstand zwischen Ihnen zu erzwingen. Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Ich sagte: erzwingen. Sosehr ich Ihre Qualitäten schätze, Jerry – und auch die Ihrigen, Al –, kann ich doch diese dauernden Querelen nicht länger dulden. Sie schaden dem Ansehen der Anthropologischen Fakultät, und sie sabotieren unsere Forschung.«
»Was denn für eine Forschung?«, begehrte Yeremi auf. »Das Silberne Volk ist ausgerottet!«
»Sie wissen besser als ich, wie viel Material Sie in den Höhlen des Orion gesammelt haben.« Er wandte sich Leary zu. »Al, bitte berichten Sie Yeremi von den Knotenschnüren.«
Der Psychologe schilderte sachlich, was seit Yeremis Trennung von der Gruppe geschehen war. Das Team sei wohlbehalten in die verschiedenen Institute und Büros zurückgekehrt, die Knotenschnüre würden derzeit gründlich von einer Gruppe Spezialisten untersucht. Wenn die Wissenschaftler gelegentlich der Schlaf übermannte, was eigentlich nicht vorgesehen sei, lagere der Schatz sicher im »Bunker«; so nannten die Mitarbeiter der Universität das hermetisch abgeschlossene Archiv unter dem U. C. Berkeley Art Museum. Bis jetzt sei der Code der heiligen Schriften des Silbernen Volkes jedoch nicht geknackt worden.
McFarell dankte Leary mit einem Nicken und richtete dann das Wort an Yeremi. »Haben Sie zufällig irgendeine Vorstellung, wie wir da weiterkommen können?«
Sie zögerte. Natürlich wusste sie, wie die Quipus aus den Höhlen des Orion zu entschlüsseln waren. Saraf Argyr konnte sie lesen. Er hatte sie Azofa genannt, eine ›Quelle‹ uralten Wissens. Als Dekan und ihr Vorgesetzter kannte McFarell Yeremis Forschungsschwerpunkte ziemlich genau. Deshalb war ihr nicht ganz klar, worauf er eigentlich hinauswollte.
»Ich kenne nur die einfachen Quipus«, antwortete sie ausweichend. »Die Inka benutzten sie für statistische und rechnerische Zwecke, zum Festlegen von Abgaben oder Zählen von Lagerbeständen. Wenn ich die Schilderungen von Al und Ihre Frage korrekt interpretiere, dann enthalten die Knotenschnüre aus den Wassarais einen komplizierteren Code
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