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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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suchte im Internet nach dem Namen »Wallot«. Wenige Sekunden später bestätigte sich ihre Vermutung: Paul Wallot hatte in den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts das Berliner Reichstagsgebäude errichtet. Hanussen musste somit von dem Anschlag gewusst haben, bevor der »Wallot-Bau« niederbrannte. Seine Mitteilung an Dzino dürfte demnach kurz vor dem verhängnisvollen Ereignis verfasst worden sein.
    Die Schlusspassage der Notiz gab ihr jedoch Rätsel auf. Von welchem »Angebot« sprach Hanussen da? Die Erwähnung des englischen Journalisten legte die Vermutung nahe, es könne sich um eine Initiative der Briten gehandelt haben.
    Fieberhaft überflog Yeremi aufs Neue die bereits gesichteten Unterlagen. Hatte sie etwas übersehen? Der konspirative Brief an Dzino war ein wichtiges Dokument, das spürte sie. Ihr fehlte nur der Schlüssel zu seiner Deutung. Irgendwo musste sich noch ein Hinweis verstecken, der Licht in Hanussens geheimnisvolles Treiben brachte. Wieder nahm sie sein »Gedankenlese-Buch« zur Hand, überlegte einen Moment, ob sie sich darin vertiefen sollte, schüttelte aber dann den Kopf. Zu zeitaufwändig! Es war bereits weit nach Mitternacht. Als sie das Buch zurück in den Wäschekorb legen wollte, rutschte es ihr aus der Hand. Blitzschnell packte sie es beim hinteren Deckel, die Seiten fächerten auf, ein kleiner Zettel fiel heraus und blieb mit der blassblauen Schrift nach oben auf den Dielen liegen.
    Yeremi starrte auf das vergilbte Blatt. Wie in Zeitlupe hob sie es vom Boden auf, um seinen Inhalt erneut zu lesen. Es stand nicht viel darauf, nur eine kurze Notiz, die sie jedoch elektrisierte.
    Optionen (31.3.1931):
    Mitarbeit im »Telepathieprojekt« des G-2 – vielversprechend!
    Angebot des Russen – prüfen
    Minutenlang hielt sie den Zettel in der Hand und starrte ihn an, als könne sie allein durch Geisteskraft mehr aus ihm herauskitzeln. Aber keine neuen Buchstaben wurden sichtbar. Wer oder was war »G-2«? Vielleicht ein Codename für Denis Sefton Delmer oder irgendeinen Unbekannten? Der Dzino-Brief legte diese Vermutung nahe. Hanussen erhoffte sich eine viel versprechende Mitwirkung im »Telepathieprojekt« des Anonymus.
    Die letzte Zeile auf dem Zettel schien den gesuchten Schlüssel zu enthalten. Die Sowjetunion hatte jahrelang intensive parapsychologische Forschungen betrieben, das wusste Yeremi. Offenbar besaß Hanussen im März 1931 zwei konkurrierende »Angebote« und stand vor der Qual der Wahl. In Yeremis ohnehin schon vollem Diagramm entstand ein gestrichelter »G-2«-Kreis. Die kurze Notiz musste sich auf dasselbe Angebot beziehen, an das Hanussen »jemanden« zwei Jahre später hatte erinnern wollen, da war sich Yeremi ganz sicher. In ihrem Kopf bildete sich eine kühne Vermutung: Sollte die gleiche Organisation, die Anfang der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts aus einem wie auch immer gearteten Interesse an der Telepathie mit Hanussen Kontakt aufgenommen hatte, auch siebzig Jahre später noch die Beherrschung dieser Macht anstreben?

 
    DAS TROJANISCHE PFERD
     
     
     
    Pacific Grove (Kalifornien, USA)
    19. Dezember 2005
    6.02 Uhr
     
    Fast wäre Yeremi gegen die Badezimmertür gerannt. Ihre Augen waren verklebt. Kurz nach dem Aufstehen sah sie nie besonders viel. Wie eine Schlafwandlerin tappte sie am Bett vorbei in den Ankleideraum, achtete kaum darauf, was sie anzog. Nur wenig mehr als drei Stunden hatte sie geschlafen, Hanussens Vermächtnis ließ sie kaum Ruhe finden.
    Das Frühstück bestand aus zwei großen Bechern schwarzem Kaffee und einem Marmeladentoast. Anschließend pochte sie zaghaft an Sarafs Zimmertür. Von drinnen – keine Reaktion. Sie klopfte stärker. Niemand meldete sich. Sollte sie einfach zu ihm hineingehen? Einige Herzschläge lang verharrte ihre Hand auf dem Knauf, aber dann machte sie kehrt und lief wieder nach unten.
    Sie würde einfach von unterwegs anrufen. Molly hatte bei der vorgezogenen Verabschiedung am vergangenen Abend keinen besonders traurigen Eindruck gemacht. »Fahr nur nach Berkeley, Liebes. Ich kümmere mich um deinen Silbermann.« Die eigene Angst vor dem Alleinsein erwähnte sie mit keinem Wort, ja, seit ein paar Tagen schien diese spurlos verschwunden.
    Auf der Suche nach ihrer Sonnenbrille betrat Yeremi noch einmal den Salon. Sie ging zum Fenster und öffnete die Lamellen, um noch einen letzten Blick auf die vom Mond beschienene Bucht zu werfen. Dabei erschrak sie.
    Am Strand verharrte ein dunkler Schemen.
    Der

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