Der silberne Sinn
zurück. Carl fasste die Fakten anschließend in knappen Worten zusammen:
»Denis Sefton Delmer wurde 1904 in Berlin als Sohn australischer Eltern geboren. Staatsbürgerschaft: britisch. Zwischen ‘28 und ‘33 war er Berliner Korrespondent des Daily Express, kannte viele prominente Nazis und schrieb deutschfreundliche Berichte. Ab 1941 arbeitete er für den englischen Nachrichtendienst. Gerüchten zufolge soll er Seiner Majestät schon früher hin und wieder einen Gefallen getan haben.«
»Das passt!«, sagte Yeremi mit abwesendem Blick. Ihr Ringfinger kreiste um den Rand der mittlerweile leeren Tasse.
»Du glaubst, Delmer hat G-2 Schützenhilfe gegeben?«
Sie nickte. Ihr Blick verirrte sich zwischen die Nadelbäume jenseits der großen Glasfenster. »Ich kenne mich zwar in Spionagefragen weit weniger gut aus als du, aber selbst mir ist bekannt, dass die britischen Nachrichtendienste – zumindest im Zweiten Weltkrieg – mit den unsrigen eng zusammengearbeitet haben. Wenn Delmer sogar Umgang mit Nazigrößen pflegte, dann wird sein Kontakt zu Hanussen, dem ›Propheten der NSDAP‹, nicht weiter aufgefallen sein. Was mich nur wundert…«
Es entstand eine lange Pause, in der Yeremis Geist einen ungeheuerlichen, aber nicht ganz unlogischen Gedanken gebar. Ihr Großvater schwieg derweil. Als sie ihm endlich wieder ins Gesicht blickte, entdeckte sie dort einen Ausdruck banger Erwartung, der sie überraschte. Trotzdem sprach sie ihre Überlegungen aus.
»Haben sich bei meiner Urgroßmutter eigentlich jemals Leute vom G-2 gemeldet?«
»Jetzt reicht’s aber!«, polterte Carls Stimme wie ein mittleres Gewitter. Yeremi erschrak, als er agil aus seinem Korbsessel aufsprang und die Arme in die Höhe warf. »Du schusterst dir da eine wilde Agentenstory zusammen, Jerry. Wo soll das hinführen?«
Sie wäre am liebsten selbst aufgesprungen und hätte lautstark ihr Recht auf Wahrheit eingefordert, aber diesmal blieb sie ruhig. »Das ist keine Antwort, Opa Carl. Hat Rose nach ihrer Berlinreise Besuch vom MID bekommen?«
»Nein, hat sie nicht«, antwortete Carl schroff und rannte mit einer fadenscheinigen Entschuldigung in den Garten hinaus.
Yeremi blickte ihm nach, bis er im nahen Föhrenhain verschwand. »Gelogen hast du nicht, Opa Carl«, murmelte sie. »Aber gefragt, wo das hinführen soll.«
Die Weiterfahrt nach Berkeley war für Yeremi wie ein langweiliger Film, an den sie sich im Augenblick ihres Eintreffens schon nicht mehr erinnern konnte. Während sie vom Montagmorgenstau nach Norden getragen wurde, grübelte sie über Carls beunruhigende Reaktion nach. Früher hätte sie sich von seinen Gefühlen mitreißen lassen, jetzt war ihr erstmals die große Unsicherheit hinter seinem barschen Verhalten aufgefallen. Quälte ihn lediglich die schmachvolle Familiengeschichte, oder gab es noch ein anderes Geheimnis, das er vor ihr verbarg?
Als Yeremis Mercedes auf den Campus rollte, kämpfte sie mit einem unguten Gefühl. Was würde sie in der Anthropologischen Fakultät erwarten? Die Antwort sollte sie überraschen.
Professor Doktor Stanley A. McFarell hatte sich nicht verändert. Zwischen Schrumpfkopf und Schiffskompass brütete er mit versteinertem Gesicht über Bergen von Akten, als Yeremi gegen fünfzehn Uhr sein Büro betrat. Sobald er sie erblickte, strahlte er übers ganze Gesicht, riss die Brille von der Nase, ließ sie auf den Schreibtisch fallen und lief ihr mit offenen Armen entgegen.
»Jerry, endlich sind Sie wieder da, meine wertvollste Mitarbeiterin, meine Lieblingsfamula!«
Ehe sie es verhindern konnte, sah sie sich von ihm umarmt und, wenn auch nur andeutungsweise, auf beide Wangen geküsst. Verwirrt trat sie zwei Schritte zurück, die überschäumende Vertraulichkeit des Dekans war ihr nicht geheuer. Mit schiefem Grinsen sagte sie: »Schön, Sie wiederzusehen, Stan. Ich kann ja nicht ewig auf der faulen Haut liegen. Außerdem lässt sich hier selten so ungestört arbeiten wie in den Ferien.«
Ihre Antwort war nicht ganz ohne Hintergedanken. Das Weihnachtsfest nahte. Während überall die Nerven blank lagen, weil die Vorbereitungen auf das Fest der Liebe letzte Geld-, Kraft- und Mentalreserven erschöpfte, wollte sie in Ruhe einige Nachforschungen anstellen. Die Zeit dafür war ideal, das Trimester seit dem 10. Dezember beendet; und selbst wenn die Studenten noch bis zur Wochenmitte mit Abschlusstests kämpften, wurde es auf dem Campus doch zusehends stiller. Yeremi wollte diese Atempause
Weitere Kostenlose Bücher