Der silberne Sinn
– ist das richtig?«
»Goldrichtig«, antwortete Leary an Stelle des Dekans. »Ich habe mich ein bisschen schlau gemacht. Gewöhnliche Quipus sind tatsächlich nur ein System zur zahlenmäßigen Erfassung von Waren oder anderen zählbaren Dingen. Sie bestehen aus einem langen Seil, von dem achtundvierzig Sekundärstränge abzweigen. Diese wiederum können unterschiedlich viele Tertiärschnüre tragen. Darin befinden sich Knoten, die Zehner- oder Hunderterstellen anzeigen. In den königlichen Quipus aus Cuzco gibt es außerdem Farbcodes zur Unterscheidung von Regierungsangelegenheiten wie Tributzahlungen, Landwirtschaft, Wirtschaftsproduktivität, zeremonielle Belange, Krieg, Frieden…«
»Du brauchst hier nicht über die Inkakultur zu dozieren, Al, das ist mein Spezialgebiet. Was habt ihr über die Orion-Quipus herausgefunden?«
»Sie stellen alles in den Schatten, was wir bisher über Knotenschriften wussten«, antwortete Leary nun freiheraus. »Wir haben es hier mit einer Art Stamm-Tau zu tun, das sich wurzelartig bis zu achtmal verzweigt. Die einzelnen Seile sind von unterschiedlicher Länge. Zwischen den Knoten gibt es deutlich variierende Abstände. Das Spektrum der verwendeten – zwar schon ausgeblichenen, aber noch deutlich unterscheidbaren – Farben ist weit größer als bei den kompliziertesten der bisher bekannten Schnurdokumenten aus der Inkahauptstadt Cuzco. Kurz: Wenn die klassischen Quipus die Welt der Inkas beschrieben, dann die Orion-Quipus, wie du sie nennst, ein unbekanntes Universum!«
Nun staunte selbst Yeremi. Saraf hatte die Knotenschnüre der Inka im Vergleich zur Azofa des Silbernen Volkes zwar als »ärmlich« bezeichnet, aber die Millionen von Kombinationsmöglichkeiten, die in der vielfach abgestuften Variabilität dieser Super-Quipus steckten, mussten selbst das hochkomplexe, aus Zigtausenden von Zeichen bestehende Schriftsystem des alten China wie ein simples Alphabet erscheinen lassen.
»Jerry?« Es war McFarell, der sie aus den Gedanken riss.
Sie blinzelte. »Ja?«
Er lächelte nachsichtig. »Ich wiederhole meine Frage gerne noch einmal: Können Sie zur Entschlüsselung der Orion-Quipus irgendetwas beitragen?«
Sie durfte sich nicht in die Enge treiben lassen. »Ich würde mir die Knotenschnüre gerne ansehen. Ist das möglich?«
»Natürlich. Nur, im Moment dürfte das schwierig sein. Wir machen einige Tests zur Altersbestimmung, und ein paar von uns eingeflogene Experten sind auch an der Sache dran. Die Kollegen wollen möglichst bald wieder nach Hause – die Feiertage, Sie wissen schon.«
Yeremi nickte. Sie glaubte zu verstehen. Nachdem in Guyana erst Colonel Hoogeven und später eine Mikrobeninfektion sie außer Gefecht gesetzt hatten, übernahmen nun Datierungsverfahren und »eingeflogene Experten« diese Funktion. Obwohl es doch ihr Projekt war, wurde sie, Yeremi, ständig davon isoliert.
Oder handelte es sich nur um eine unglückliche Verkettung von Zufällen?
Yeremi schonte sich nicht. Bis zum Freitag kämpfte sie verbissen an verschiedenen Fronten, um dem Massensterben in den Wassarais auf die Spur zu kommen. Dabei nahm sie erneut die Fährte der Weißen Götter auf. Erwartungsgemäß musste sie zahlreiche Quellen aussondern, deren Seriosität ihr – vorsichtig gesprochen – zweifelhaft erschien. Selbst ernannte Experten wie der Entdecker und Wissenschaftsjournalist Graham Hancock verbreiteten dubiose Theorien über prähistorische Hochkulturen. Immer wieder tauchte der Name »Atlantis« auf. Aber es gab wenige oder vielleicht gar keine hieb- und stichfesten Beweise, die auf eine Verbindung der weißen Kulturbringer Amerikas mit dem Silbernen Volk hindeuteten. Die Physiognomie seiner Angehörigen sprach natürlich für sich. Auch die Schiffsdarstellungen in den Höhlen des Orion und einige Andeutungen der Silbernen verwiesen auf eine Herkunft jenseits des Atlantiks. Aber die Einzelheiten blieben im Dunkel der Vergangenheit verborgen. Saraf hätte gewiss Licht in die Zusammenhänge bringen können, und in mehreren Telefongesprächen bat Yeremi ihn, sein Wissen mit ihr zu teilen. Stattdessen wurde er immer einsilbiger. Sie glaubte zu spüren, wie er sich selbst immer mehr unter Druck setzte – dem Gefühl nach hätte er ihr seine Kenntnisse wohl längst offenbart –, aber ausgerechnet ihn, den letzten Bewahrer des Silbernen Sinnes, schien der Verstand davon abzuhalten, das Schweigen zu brechen. Für Montagabend, zwanzig Uhr, hatte Yeremi sich mit Sandra in
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