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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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San Francisco zu einem »Frauenabend« verabredet. Kurz bevor sie ihre Wohnung verließ, rief sie im Strandhaus an, weil sie Saraf vermisste – eine für sie irritierende Feststellung, die sie sich nicht gerne eingestand. Sie erklärte sich dieses Gefühl mit ihrer zweimonatigen engen Zusammenarbeit. Abgesehen von der kurzen Zeit, als sie Saraf für tot gehalten hatte, war sie jeden Tag mit ihm zusammen gewesen.
    Mollys Stimme klang sorglos und heiter. Saraf mache erstaunliche Fortschritte. Nie habe sie einen so begabten Schüler gehabt. Yeremi musste ihr schließlich ins Wort fallen, weil Mollys Redefluss anders nicht zu bremsen war. Der Mustereleve selbst sprach nicht sehr viel. Das Telefonieren war ihm immer noch ein wenig unheimlich.
    »Geht es dir gut, Jerry?« Seine Stimme klang besorgt.
    »Ich habe Al getroffen«, antwortete sie.
    »Nimm dich vor der dunklen Seite der Empathie in Acht!«
    Es fröstelte sie. Eher beiläufig registrierte sie die selbstverständliche Art und Weise, wie er diesen Terminus inzwischen benutzte. Saraf lernte wirklich schnell. »Ich pass schon auf mich auf.«
    »Zu schnell!«
    »Wie bitte?«
    »Deine Antwort kam zu schnell, Jerry. Voreilige Schlüsse sind die Lügen unserer Befangenheiten. Sie führen uns leicht in die Irre. Ich wäre beruhigter, wenn du auf den Silbernen Sinn hörtest. Er spricht meist sehr leise; und nur, wer ihm Zeit gibt und die Voreingenommenheit ablegt, kann seine Stimme hören.«
    »Wie oft muss ich dir das noch sagen, Saraf? Ich besitze diesen Fühlsinn nicht.«
    »Die Empathie wohnt in jedem Menschen. Bitte glaube mir, Jerry. Wir sind komplizierte Geschöpfe. Nur wer bereit ist, auch von schlechten Lehrern zu lernen, wird am Ende verstehen.«
    Den Gesprächen mit Saraf, selbst den kürzesten Telefonaten, folgten meist lange Phasen geistiger Verdauung. Manche seiner bisweilen ziemlich verwirrenden Äußerungen schlang Yeremi zunächst gleichsam herunter, und später stiegen die Worte wieder in ihr Bewusstsein auf, wo sie gewissermaßen wiedergekäut wurden. Auf Learys Namen hatte Saraf auffallend besorgt reagiert. Yeremi nahm sich vor, wachsam zu sein.
    Bei allen ihren Recherchen hielt sie sich streng an eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen. Alle Notizen speicherte sie nur in stark verschlüsselter Form. Jeden Abend verschob sie zudem ihre Ergebnisse vom Campusnetzwerk auf die Festplatte ihres Notebooks. Weil sämtliche über die Computer der Universität laufenden Datenbankzugriffe später in Logdateien nachverfolgt werden konnten, unterschied Yeremi streng zwischen solchen Abfragen, die sie mit ihrem Projekt rechtfertigen konnte, und jenen von eher privater Natur. Sollte es wirklich ein Interesse des Militärs oder des Geheimdienstes an der empathischen Telepathie geben, dann konnte sie nicht vorsichtig genug sein.
    Im Hinblick auf Hanussen sprudelten die historischen Quellen unerwartet ergiebig. Wie bei den Weißen Göttern ließen sich Fakten und Legenden auch hier bisweilen nur schwer unterscheiden. Im deutschen Freiburg spürte Yeremi ein Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene auf, das sie an einen gewissen Doktor Wilfried Kugel verwies, einen Physiker, der sich zugleich mit Philosophie beschäftigte und mindestens ein Jahrzehnt seines Lebens mit der Erforschung Erik Jan Hanussens verbracht hatte. Gewissermaßen als Extrakt dieser Arbeit war ihm das Buch Hanussen – Die wahre Geschichte des Hermann Steinschneider aus der Feder geflossen.
    Yeremi telefonierte mit dem Deutschen von einem öffentlichen Fernsprecher aus. Anfangs misstraute Kugel ihr, hielt ihre Fragen für die Finte einer sensationslüsternen Journalistin, aber nachdem sie ihm einige bisher unveröffentlichte Details über Rose Presi, ihre Urgroßmutter, geschildert hatte, verflog sein anfängliches Misstrauen. Der Wissenschaftler zeigte sich nun sogar erfreut, eine bisher unbekannte Nachfahrin seines langjährigen Studienobjektes kennen zu lernen. Noch am Dienstag wolle er ihr »eine Überraschung« per Luftpost nach Pacific Grove schicken. Als sie ihn nach Informationen fragte, »die eine eventuelle Verstrickung Hanussens in außerdeutsche Geheimdienstaktivitäten belegen könnten«, versprach er »tatkräftige Unterstützung bei ihrer Ahnenforschung«.
    Aus ihrer Wohnung in Berkeley rief sie am Abend zu Hause an. Der Tag war ohne Komplikationen verlaufen. McFarell hatte sie nur einmal ermahnt, sich »zwischen den Jahren« ein oder zwei Wochen Ruhe zu gönnen.

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