Der silberne Sinn
Learys Name war dabei kein einziges Mal erwähnt worden. Ihre Stimmung hatte sich im Verlauf der zurückliegenden Stunden zusehends gehoben. Bis ihre Adoptivmutter sie zerstörte.
»Weißt du, was wir heute Nachmittag gemacht haben, Liebes?«
»Shakespeares König Lear analysiert?«
»Das steht für morgen auf dem Programm.« Molly kicherte. »Nein, ich habe Saraf meiner Damenrunde vorgestellt. Du glaubst nicht, wie begeistert sie alle von ihm waren.«
Yeremi erstarrte. »Wie bitte!? Das glaube ich nicht. Du hast tatsächlich zu Hause ein Kaffeekränzchen abgehalten und Saraf allen vorgeführt?«
»Menschen zu verstecken ist eine sehr ungezogene Eigenart, Jerry! Außerdem musste ich den Damen doch seine neue Garderobe zeigen.«
»Neue… was?«
»Saraf und ich waren in der Stadt. Wir haben ein wenig eingekauft. Er kann ja nicht ewig in dem Plunder herumlaufen, den du ihm im Dschungel gekauft hast.«
Yeremi schnappte nach Luft. »Der Plunder hat dreitausend Dollar gekostet! Bei einem der besten Herrenausstatter in Georgetown! Es war nicht nötig, Saraf in aller Öffentlichkeit herumzuzeigen wie einen frisch gestutzten Pudel. Er ist nicht umsonst…«
»Mäßige dich, Yeremi! Nicht in diesem Ton!«
Die Gescholtene war unfähig, sich schuldig zu fühlen. »Aber ich habe dich ausdrücklich gebeten, niemandem etwas von ihm zu erzählen.«
Molly lachte. »Das war gar nicht nötig. Meine Damen haben ihn ja mit eigenen Augen bewundern können. Im Übrigen sind sie es gewesen, die nicht mehr aufhören wollten, ihm von ihren Wehwehchen zu berichten. Saraf hat nur wenig gesagt, aber nachher sind alle selig nach Hause gegangen.«
Yeremi hatte die Augen geschlossen, die Stirn auf die Linke gestützt, und sie schüttelte fassungslos den Kopf. So ziemlich die sicherste Methode, ein Geheimnis in der Monterey Bay zu verbreiten, war ein Wink an Mollys Kaffeekränzchen, einen erlesenen Kreis von Ehefrauen und Witwen wohlhabender Honoratioren. Die Damen besaßen ein erstaunlich flexibles Verständnis von Diskretion. Selbst Medienprofis hatten ihrem ungestümen Mitteilungsdrang wenig entgegenzusetzen. Bevor Molly von ihren Depressionen in die Isolation gerissen worden war, hatte sie dem Damenzirkel wöchentlich beigewohnt. Man traf sich an wechselnden Orten, mal am Nachmittag zu koffeinfreiem Kaffee und Diätkuchen, dann wieder abends zum Bridge.
»Jerry, bist du noch da?«
Wie aus tiefem Schlaf erwachend, öffnete Yeremi die Augen. »Ja, Mama.«
»Bist du mir böse?«
»Nicht böse, aber… Verstehe mich doch! Ich möchte Saraf helfen. Jetzt wird bald die ganze Gegend von deinem neuen Seelenmasseur reden. Das ist… nicht hilfreich!«
»Du verübelst es mir also doch.«
»Nur ein bisschen, Mama. Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Ja?«
»Bevor du CNN anrufst, gib mir bitte Bescheid.«
Mit jedem weiteren Tag bangte Yeremi mehr um ihren persönlichen »Alien«, denn in der Behördensprache war Saraf Argyr nichts anderes: nur ein illegal eingereister Ausländer. Für einen Fernsehsender wie CNN dürfte er dagegen in der Kategorie »Außerirdische und andere Weltwunder« rangieren. Doch wenn Molly ihr Versprechen hielt, dann würden die Medien nie von seiner Existenz erfahren. Mit diesem nicht ganz schlüssigen Gedanken beruhigte sich Yeremi auch am Mittwochabend, während sie ihr Apartment am Bancroft Way betrat. Gedankenlos ließ sie ihren Rucksack bei der Sitzgruppe im Wohnzimmer zu Boden fallen und schlurfte in die Küche. Sie schenkte sich einen Tomatensaft ein, gab Pfeffer und Salz dazu und warf beinahe das Glas um, als ihr Rucksack plötzlich melodisch zu piepen begann. Er intonierte das Motiv von Memory aus dem Musical Cats.
Mit wenigen Sätzen war Yeremi im Wohnzimmer und riss das Mobiltelefon aus dem Lederbeutel. Es war Doktor Sibelius. Der heiß ersehnte Anruf!
Der Arzt klang seltsam zerstreut, erklärte unnötigerweise, worum Yeremi ihn vor einer Woche gebeten hatte, und kam erst zur Sache, als sie ihn ungeduldig danach fragte.
»Was hat der Antikörpertest denn erbracht? Konnten Sie den Erreger identifizieren?«
»Sie sagten, von dem Kollegen, der Sie im Dschungel untersucht hat, sei eine Sepsis diagnostiziert worden?«
»Ja doch!« Yeremi wurde immer nervöser.
»Aufgrund welcher Symptome ist er zu diesem Schluss gekommen?«
»Aber das habe ich Ihnen doch schon alles in Morgan Hill erzählt: Kopf- und Gliederschmerzen, Schüttelfrost, Fieber, schneller Puls, mir war elend zu Mute wie lange nicht
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