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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Jahr nicht mehr hier aufzukreuzen«. Unterwegs haderte sie mit sich selbst, weil sie den aktuellen Datenbestand nicht mehr auf ihren mobilen Computer heruntergeladen und im Campusnetzwerk gelöscht hatte. Ausgerechnet eine erst am Morgen empfangene E-Mail des Hanussen-Experten Kugel lag noch auf dem Server der Fakultät. Der Deutsche hatte auf Yeremis Bitte hin den Werdegang einiger Personen verfolgt, die mit ihrem Urgroßvater enger verbunden gewesen waren, und die zusammengetragenen Fakten in der elektronischen Nachricht ausführlich beschrieben. Außerdem avisierte er eine Paketsendung aus Berlin, »die Pacific Grove aber vermutlich erst nach Weihnachten erreichen« werde.
    Leider wurde Yeremi das Versäumnis erst südlich von San Jose bewusst. Jetzt noch umzukehren hieße, sich auf einen Horrortrip zu begeben. Die Straßen waren heillos verstopft. In den letzten Stunden vor Heiligabend strebte jeder heimischen Gefilden entgegen, um sich im Familienkreis dem Rausch der Besinnlichkeit hinzugeben und am Sonntag eine schöne Bescherung zu erleben. Nach menschlichem Ermessen dürfte niemand die stark verschlüsselten Dokumente finden, geschweige denn lesen können. Aber das klitzekleine Restrisiko und die Erkenntnis, mit einer gründlichen Lektüre der möglicherweise aufschlussreichen Nachricht bis zum neuen Jahr warten zu müssen, wurmte Yeremi.
    Als sie gegen Abend an der Sloat Avenue den Highway 1 verließ, um die kürzere Strecke durch Monterey zu nehmen, leuchtete die gelbe Kontrolllampe des Reservetanks schon beunruhigend lange. Sie wollte nicht das Wagnis eingehen, auf den letzten Metern liegen zu bleiben, und steuerte eine Tankstelle an. Während sie sich an der Kasse zum Bezahlen anstellte, schweifte ihr Blick nach oben, wo ein Fernsehapparat unter der Decke hing. Der lokale Sender strahlte das übliche Nachmittagsprogramm aus, eine von den Talkshows, in denen leutselige Zeitgenossen in schlechtem Englisch ihre bizarren Sexualpraktiken ausbreiteten, sich über die Perversitäten ihrer Nachbarn beschwerten oder sich vor laufender Kamera an die Gurgel gingen. Vor ungefähr einem Jahr hatte sich Yeremi, geschwächt von einer Grippe, nicht dazu aufraffen können, den Fernseher auszuschalten, und ein solches Schmierendrama in voller Länge angesehen. Seitdem fürchtete sie die Sendung.
    Die Moderatorin hieß Emma, was auffallend mit ihrem asiatischen Aussehen kontrastierte. Weitere Details zu ihrer Abstammung gab sie jedoch nicht preis – vielleicht aus gutem Grund. Abgesehen von diesem kleinen Geheimnis war Emma ein sehr extrovertierter Mensch. Ihr maskenhaft geschminktes Gesicht wirkte auffallend maskulin. Es gehörte ebenso zu ihrem Markenzeichen wie die ausgefallene Garderobe, die sie in ihren Shows zu tragen pflegte. An diesem Tag moderierte sie in einem Santa-Claus-roten, metallisch glänzenden Trikot, wie es üblicherweise – sah man einmal von dem weißen Pelzbesatz an Fuß- und Handgelenken, dem halbtransparenten Miniröckchen und der Zipfelmütze ab – von Eisschnellläufern getragen wurde.
    Als Yeremis Blick in die Sendung stolperte, lachte Emma gerade exaltiert. Die Talkmasterin war eine sehr gefühlsbetonte Person, die Tiere liebte, Zigaretten hasste, mindestens einmal in jeder Show in Tränen ausbrach und sich offen zu ihrer Bulimie bekannte. Die Abschaffung »überkommener Wertesysteme« war ihr ein Herzensanliegen. Jeder Gast, der in einer Ehegemeinschaft interniert war, Greenpeace für eine Erbsenmarke hielt oder pünktlich seine Steuern zahlte, musste sich ihren kritischen Fragen stellen. Die Glaubhaftigkeit des demokratischen Rechtssystems sah sie ernsthaft gefährdet, sollte das höchste Amt der Vereinigten Staaten nicht bei der nächsten Wahl einer lesbischen Vegetarierin zufallen.
    Auch in ihrer »letzten Show vor dem Fest der Liebe« präsentierte Emma gewohnheitsmäßig »Gäste wie du und ich«, wobei sie nicht ausdrücklich erwähnte, dass es sich dabei vorwiegend um weibliche Millionäre handelte und die Geladenen Emmas künstlerische Arbeit mit Zuwendungen in unbekannter Höhe förderten. Vielleicht waren derlei schillernde Pressemeldungen ja auch nur Enten, die ihrer Sendung eine höhere Popularität verschafften. Augenscheinlich tat Emma alles, um sich dem Vorwurf feministischer Radikalität zu entziehen. Sie lud sogar Männer ein.
    An diesem nasskalten Spätnachmittag war der in kurzer Hose und einem nur zur Hälfte zugeknöpften, schreiend bunten Hawaiihemd steckende Quotenmann

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